Ein heikles Thema, unbequem und dennoch tagtäglich präsent: Zivilcourage. Ab wann soll man helfen? Wem soll man helfen? Warum soll man helfen? Wie soll man helfen? Und vor allem: Wie kann man helfen?

In der U-Bahn, auf dem Marktplatz, im Stiegenhaus – überall können wir auf ungeahnte Situationen stoßen, wo wir rasch Klarheit brauchen, ob überhaupt eine Notsituation vorliegt. Wenn das geklärt ist, sind drei Reaktionen denkbar: Flucht, Totstellen oder Kampf. „Flucht“ kann zweierlei bedeuten: tatsächliches Verlassen des Geschehensortes oder aber schlichtes Wegschauen (das geht mich doch nichts an, der lebt eh noch, ist nicht so ernst). „Totstellen“ ist etwas Ähnliches wie Wegschauen, aber eher in Richtung Schockstarre: man ist mit der Situation überfordert, quasi Blackout. Die einzige „richtige“ Option ist „Kampf“: Konfrontationskurs, aktiv werden, Einsatzkräfte alarmieren, dem Opfer Hilfe, Beistand und Schutz anbieten. Ziel meines Artikels ist es unter anderem, die Unsicherheit, wie man damit umgehen soll, aufzuarbeiten und geeignete Helferlein-Strategien kennenzulernen. Ergänzende Informationen dazu finden sich in diversen YouTube-Videos, wo Experimente gezeigt werden, wie hilfsbereit die Menschen tatsächlich sind, und Psychologen diese Situationen näher erläutern.

Quarks & Co. hat in einem Beitrag[1] mit Randa Yogeshwar das Thema von mehreren Perspektiven betrachtet, zentral ist für mich die abschließende Zusammenfassung: zunächst muss man von der Notsituation Kenntnis erlangen (Hilfeschreie, Feuer, Verkehrsunfall, bewusstlose Person). Dann wird man die Gefahr abwägen, dann kommt die Phase, ob man sich dafür verantwortlich fühlt, dann die Abwägung ob man überhaupt helfen kann und abschließend die Kosten-Nutzen-Analyse. Auch der (gefühlte) Zeitdruck spielt eine Rolle: je knapper die vorgegebene Zeit war oder je mehr Hast simuliert wurde, desto unwahrscheinlicher wird die Hilfeleistung (die Wahrnehmungschancen werden zusätzlich reduziert).

Viele der nach nachgestellten Notsituationen befragten Personen äußerten sich auch kritisch zum Eigengefährdungspotenzial der Situation (wie riskant ist Hilfeleistung). Für mich ergibt sich der logische Schluss: je mehr Selbstvertrauen jemand hat, desto eher wird er oder sie aktiv. Wer sich fürchtet, durch Eingreifen selbst zum Opfer (körperlicher Gewalt) oder ausgegrenzt zu werden, wird sich eher zurückhalten. Für manche steht leider die Angst im Vordergrund, sich möglicherweise in der Öffentlichkeit bloßzustellen (weinen, schreien, Sterbenden angreifen, blutende Wunden berühren) – dies ist insbesondere für ständig um Selbstbeherrschung bemühte Personen wie mich eine gewaltige Herausforderung. Meines Wissens wurde noch nie jemand wegen falscher Hilfeleistung verurteilt, hingegen drohen bei mangelnder Hilfsbereitschaft strafrechtliche Konsequenzen: gemäß § 95 StGB ist jeder zur Hilfeleistung verpflichtet, es sei denn, diese wäre unzumutbar.

Weitere Erkenntnisse des Quarks & Co.-Beitrages: Je mehr Beteiligte die Situation sehen, desto weniger Hilfswahrscheinlichkeit. Klingt seltsam, liegt aber an der aufgeteilten Verantwortung (man sucht sich meist Rechtfertigungsmöglichkeiten, dass eh die anderen helfen könnten, wenn’s wirklich ernst wäre), man orientiert sich gerne am Verhalten der anderen. Frauen helfen übrigens öfters als Männer – denn diese können sich offensichtlich schwerer ins Opfer hineinversetzen und wollen nur ungern zwischen die Fronten gelangen (bei offensichtlichen Beziehungsstreitigkeiten). Bei den Experimenten wurden allerdings nur Männer als Aggressoren eingesetzt, interessant wären wohl Tests, wo die unterlegene Frau ihren Freund/Mann angreift oder gleichgeschlechtliche Streits. Ein Einfluss könnte auch ein unterschiedliches Gerechtigkeitsempfinden sein, beispielsweise könnte ein Mann argumentieren: „Geschieht der schon recht, sie hat wohl ihre Pflichten verletzt.“ Nun stellt sich für mich die Frage, wie die Gesellschaft wirksam gegen Unterdrückung/Gewalt vorgehen kann: will man wegschauen, weglaufen oder helfen? Da gibt’s auch diverse Vorschläge für indirekte Hilfeleistung: (körperlich überlegene) Verstärkung holen, Notruf wählen, Unfallort absichern.

Der Autoverkehr ist hierbei besonders tückisch: der Vorausfahrende schaut fast schon automatisch in den Rückspiegel (und übergibt damit die Verantwortung an den Nachkommenden), der Hinterherfahrende vertraut auf Situationseinschätzung des Vorausfahrenden („wenn der nicht stehenbleibt, wird es schon nicht so schlimm sein“). Ein unlösbares Dilemma – bei dem tragischerweise beide (oder die ganze Kolonne) die Verantwortung von sich weisen. Möglichkeiten zur Hilfeleistung gäbe es auch hier genug: Warnwesten verteilen, Autoapotheke heraussuchen, Verletzte ansprechen/berühren und in das Geschehen miteinbeziehen. Es wird oft darauf vergessen, auch den beistandleistenden Person Hilfe anzubieten (diese wurden ebenso wie die unmittelbaren Opfer traumatisiert, Schocküberwindung, Therapieformen entwickeln).

Für mich schwankt die Erkenntnis zwischen: „warum hilft denn keiner?“ (was hat man denn schon zu befürchten) und „jetzt ist mir klar, warum keiner hilft“ (Unsicherheit, wie man mit der Situation umgehen soll, Schockstarre, Angst vor Konsequenzen). Warum kümmern wir uns nicht mehr um Mitmenschen? Ich behaupte provokant, dass ausgerechnet der Ideologie einer der stärksten Parteien Österreichs ein Teil der Schuld zugeschoben werden kann: die Parteivertreter schüren Ausländer-/Fremdenfeindlichkeit, stellen Menschen anderer Herkunft als hinterlistige Sozialschmarotzer dar und werben neuerdings sogar mit Plakaten wie: „Unsere Tradition. Unser Fest.“. Wir müssen endlich anfangen, die künstlich gezogenen Grenzen zu überwinden und uns dazu bereiterklären, uns gegenseitig zu helfen – denn jeder könnte der nächste sein, der im Zug seltsam angesprochen wird oder Opfer eines Verkehrsunfalls wird oder einen Herzinfarkt erleidet. Da wünscht man sich dann doch, dass einem geholfen wird?!

Ich hoffe, dass ich mit diesem Artikel zumindest zum Nachdenken anregen konnte und überlege nun ernsthaft, in Zukunft Coachings zum Thema Zivilcourage anzubieten. Ich würde mich freuen, wenn sich Interessierte per PN oder in den Kommentaren diesbezüglich melden!

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Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:57

fischundfleisch

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