Heute Nacht starb Emma. Allein. Ich war nicht da. Am Morgen fand ich sie. Tot. Emma war „nur“ eine Taube. Eine „Weanerin“. Ein Radfahrer machte mich auf sie aufmerksam. Er fuhr des Weges, den ich entlang hastete. Der Radfahrer hätte sie beinahe überfahren. Erschrocken verriss er den Fahrradlenker nach rechts und stieß einen Schrei dabei aus. Ich dachte mir: „Schau, es gibt doch noch umsichtige, fühlende Menschen!“
Emma konnte nicht wegfliegen. Ihr linker Flügel und ihr Bein waren gebrochen. So flüchtete sie torkelnd, aber dennoch rasch ins Gebüsch. Mal da, mal dort verkroch sie sich. Wir konnten sie letztlich fangen. Festen Willens, diese namenlose „Ratte der Großstadt“ gesund zu pflegen, um sie danach wieder an den Ort der Begegnung zurückzubringen. Von dort sollte sie wieder fliegen. Hoch in den Himmel. Oder wenigstens über die Dächer Wiens.
Die Taube verbrachte den Tag unserer Begegnung in einer Schachtel. Mit Wasser, in welches ich ein schmerzstillendes Medikament eingerührt hatte. Zeit hatte ich für sie kaum. Ich musste Geld verdienen und so sah ich immer wieder nur kurz nach der Taube. Diese zeigte mir unmissverständlich, was sie von meiner Idee, sie gesund zu machen, hielt. Nämlich nichts. Nachts ging es mittels Taxi – ein hilfsbereiter Taxibesitzer brachte uns unentgeltlich zum Bahnhof – und per zweierlei Zügen nach Hause. Fast drei Stunden Fahrzeit hinter uns gebracht, sperrte ich die Taube in einen großen Papageienkäfig. Nun war sie sicher und würde Ruhe haben.
Am Donnerstag versorgte ich sie, so gut ich konnte. Heilende, aber auch delikate Blumen und Pflanzen reichte ich ihr. Wasser und Medizin. Ein Anruf bei einer befreundeten Tierärztin war geplant. Wie „repariert“ man einen gebrochenen Taubenflügel? Es blieb bei dem Vorhaben. Getan habe ich für die Taube nichts mehr weiter. Wieder holte mich mein Alltag ein. Abends sah ich, dass die Taube an Energie verloren hatte. Tauben zeigen ihren Schmerz nicht. Wie jeder mir bekannte Vogel sieht man ihr Unwohlsein am Aufplustern ihres Federkleids und an der geduckten Haltung. Ich musste die Taube retten! Morgen….
Morgen – war gestern. Nachts blitzte ein Name für die Taube auf. „Emma“. Der Name stand plötzlich da. In meinen Gedanken. Emma sollte nun all meine Liebe und Fürsorge bekommen. Ich würde für sie kämpfen. Wenn ich es für mich schon nicht vermag, so sollte wenigstens Emma gerettet werden. Um eines Tages wieder hoch in den Himmel fliegen zu können.
Tauben sind nicht nur die „Ratten der Städte“. Tauben sind auch Symbol für die Liebe. Den „Heiligen Geist“. Mit diesen Gedanken versah ich Emma noch mehr „Wert“. Wer will die Liebe nicht erretten? Ich wollte… So trug ich sie herum. Die Emma. Versuchte sie zu füttern. Mit einem Viersterne-Menü. Was mich betrifft, dachte ich, dass sie dieses „in da Stodt“ wohl noch nie vorgesetzt bekam. Wieder wollte ich ihr mit Hilfe von Medizin den Schmerz nehmen. Wiederholt streichelte ich sie.
Emma sah mich an. Haben eigentlich alle Tauben blaue Augen?
War es nur meine Einbildung? Oder haben diese Vögel alle so vielsagende Augen? Dieser Blick! Wir sprechen über den Augenkontakt. Dies gilt nebst Gestik für viele Dialoge zwischen Mensch und Tier. Es braucht oft keine Worte. Emma wollte nicht fressen. So trug ich sie ins Freie. Sie sollte den Wind spüren, die Vögel und den Himmel sehen und wahrhaben. Ich saß neben ihr und verrichtete meine Arbeit. Es schien, als kehre ihr Lebenswille zurück. Ein Städter braucht vielleicht nicht so viel Hilfe, als ein Landmensch. In diesem Fall: Tier. Dachte ich. Und. Hoffte, dass sie so ist.
Abends stellte ich den Käfig mit Emma wieder ins Haus. Die abendlichen Sonnenstrahlen sollten sie noch wärmen. Und, das Leben sollte sie rufen. Emma hörte nicht mehr auf diese Rufe. Ich denke, die Futterverweigerung war der Ausdruck ihres Willens. Dieser war zu sterben. Tiere sind dahingehend wohl oft klüger als wir Menschen. Vielleicht wusste sie, dass sie nie mehr fliegen kann. Ihr Leben war somit besiegelt. Mit dem Tod. Und diesen führte sie herbei.
Heute Morgen lag Emma tot im Käfig. Ihren Schnabel hat sie zwischen den Gitterstäben und ihr Kopferl schaut gen Osten.
Emma! Ich bin sehr traurig. Weil ich wohl falsch gehandelt habe. Ich wollte den Lauf dieses irdischen Daseins nicht anerkennen. Weil ich ein Mensch bin und immer wieder meine, ich könne unaufgefordert in das Leben anderer Lebewesen eingreifen. Vor allem, meine ich immer wieder, dass mein Handeln richtig ist. Für das andere Lebewesen.
Ich denke, Du – Emma – hättest lieber Deine letzten Stunden in jenem Strauch zwischen dieser vielbefahrenen Straße und jenem Radweg, wo wir Dich fanden, verbracht. Inmitten der Dir gewöhnten Geräusche und Gerüche.
Ich befürchte, dass ich Dir letzten Endes mehr Leiden zugefügt habe.
Weil ich mich ermächtigte, über Dein Tauben-Leben zu entscheiden. Der raschere Tod blieb Dir somit verwehrt. Verzeih!
Noch liegt Emma im Käfig und ich werde sie heute der Natur zurückgeben. Ein Raubtier wird sie heute Nacht fressen. Und dem natürlichen Lauf dieses Erdenlebens Tribut zollen. Geboren werden und sterben.
Jeder von uns darf seinen eigenen Weg gehen.
Die Frage stellt sich: wann greife ich ein? Wann überlasse ich der Natur in ihrer vermeintlichen Härte ihren Lauf? Ich bin überzeugt, es gibt keine Irrtümer in der Natur.
Und, der Heilige Geist? Und die Liebe?
Nun. Würde die Liebe sagen: „in meinem Namen hast Du immer einzugreifen. Zu retten. Zu beschützen. Auch wenn Du selbst nicht in der Lage bist, bestmöglich zu helfen!“
Und. Der Heilige Geist? Was würde dieser sagen?
Ich denke, er würde sagen: „Martina, Du hast Dein Bestes versucht. Unterscheide nur stets den Ursprung Deines Helfens. Ist dies reinen Herzens. Ausschließlich des Helfens willen. Oder versprichst Du Dir durch Deine Hilfe einen Lohn, eine Belohnung?“
Emma ist heute Nacht weggeflogen. In meiner Welt ist alles Leben Geist. So natürlich auch Emma. Dieser Geist hat jenes Taubenleben abgeschlossen und wandert weiter.
Ich bin noch hier. Als Menschenkind. Und ahne, dass unsere Begegnung mich nicht nur traurig macht.
Ich ahne, dass Emma mir eine Botschaft vermittelte.
Diese gilt es nun umzusetzen.