„Ich arbeite oft mehr als 70 Stunden die Woche!“

Mario Bertolini

Meine Interviewreihe mit österreichischen Politikern geht weiter – und bleibt spannend. Während Journalisten dieser Tage mit Politikern vor allem über politische und wirtschaftliche Themen sprechen, geht es mir vor allem um die Frage, welchen Menschen wir wählen. Menschsein – darum geht's.

Wer den Vorarlberger @Gerald Loacker via Skype kontaktiert, der trifft ihn zuallererst mit einer Kuh an. Der Rechtswissenschaftler ist auf seinem Skype-Profil in reger „Unterhaltung“ mit einer Vertreterin der „Partei des Montafoner Braunviehs“ zu sehen. Die blaue Radlerhose, in welcher der einstige ÖVPler hier fotografisch festgehalten wurde, erheitert zusätzlich. Stimmig ist dieses Bild. Und, es passt, wenn man diesem freundlichen und keinesfalls arroganten Mensch via Skype gegenüber sitzt.

"Herr Magister Loacker: Der Vorarlberger Musiker Falco Luneau schrieb ein Musikvideo mit dem Titel 'Brich dein Schweigen', das im Zuge einer Kampagne des Kinder- & Jugendnotrufs Rat auf Draht junge missbrauchte oder misshandelte Menschen animieren soll, über ihr Leiden zu reden. Was denken Sie, bringt Menschen dazu, Andere zu misshandeln und zu missbrauchen? Und was würden Sie selbst unternehmen, wären Sie mit so einem Geschehnis in ihrem näheren Umfeld konfrontiert?"

"Diese Menschen tragen bereits Gewalt in sich. Es ist wichtig, mit dem Opfer wiederkehrend darüber zu sprechen. So, dass dieser Mensch begreift: 'Ich kann mich melden. Ich bin nicht schuld und muss mich nicht schämen.' Besonders Schulärzte, wie auch die Betreuer und Lehrer der Kinder sind aufgefordert, achtsam zu sein. Der Täter selbst sollte ebenfalls wissen, dass es Anlaufstellen gibt, wohin er sich wenden kann. Ich würde den Täter direkt ansprechen und diesen in weiterer Folge bei den zuständigen Behörden anzeigen."

"Zur Religion, Herr Loacker, sind Sie der Meinung, dass wir Menschen einen Glauben an eine höher geordnete Macht brauchen?"

"Ich glaube nicht, dass das jemand braucht. Ich persönlich fühl` mich wohler, wenn der Andere ein Gewissen hat. Wie Moralvorstellungen zustande kommen, kann ich nicht beurteilen. Es gibt verschiedene Referenzsysteme, wie zum Beispiel den Glauben oder die Philosophie. Jeder Mensch hat wohl einen anderen Zugang. Der Mensch kann allerdings auch nur sich selbst Referenzsystem sein. Ethikunterricht kann Erziehung sicher nicht ersetzen. Wenn man Kindern keine Umgangsformen beibringt, tut man ihnen sicher nichts Gutes. Schauen Sie, selbst als Erwachsener hat man es in der Gesellschaft leichter, wenn man höflich und freundlich ist.“

"Viele Österreicher meinen, Politiker seien Marionetten der Wirtschaftsbosse und der Banken. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?"

„Es gibt Solche und Solche… wie überall. Zum Beispiel die E-Zigaretten. Hier wurde das Tabakgesetz novelliert. Im Zuge dessen wurde ein Versandverbot erlassen und wurden so komplizierte Auflagen geschaffen, dass viele der Klein- und Jungunternehmer in der Branche der E-Zigaretten das Handtuch werfen mussten. Das war und ist im Sinne der Großkonzerne, die auf diese Weise Konkurrenten loswerden. Tabakkonzerne vertreiben ihre Produkte über Trafiken und brauchen den Versandhandel nicht. Hier muss man als Politiker den Mut haben, nicht alle Gesetze durchzupeitschen. Es braucht nicht immer sofort ein Gesetz. Menschen wissen doch auch, was man tun darf oder sollte und was nicht. Hier muss der Politiker auf die Intelligenz der Menschen vertrauen. Noch ein Beispiel für Verkomplizierung und Einengung durch Gesetze: hat man die Gewerbeberechtigung für eine Damenschneiderei, darf man beispielsweise keine Herrenhemden herstellen. Ich halte solche Gesetze für zu engmaschig. Und immer wieder: Bildung ist das wichtigste! Dies ist die Basis für einen mündigen und selbstbestimmten Menschen.“

"Eine Bürgerin bat, Sie folgendes zu fragen: Meinen Sie, dass die Mutter- und Hausfrauentätigkeit exakt gleich wie herkömmliche Arbeitszeit verrechnet werden sollte?"

"Wir Neos wollen ein anderes System. Wir möchten die Pensionsbeiträge von Kindeseltern splitten. Die Beiträge von Vater und Mutter aus den letzten sieben Jahren sollen addiert und im Zuge eines Pensionsplitting auf die Kindeseltern aufgeteilt werden. So fehlt keinem der Beiden ein Pensionsmonat. Die Aufteilung von Erwerbsarbeit und häuslicher Arbeit kann zwischen beiden frei aufgeteilt werden. Die Neos sind liberal und vertreten die Ansicht, dass der Mensch immer eine freie Entscheidungsgewalt haben sollte."

"Ein anderer Wähler meint: Warum wollen die NEOS, so scheint es zumindest, immer besser dastehen als die anderen Parteien?"

„Alle denken an Eure Wahlstimmen und alle wollen Eure Stimmen. Wir sagen: wir wollen ein enkelfittes Sozialsystem, welches auch in 30 und 40 Jahren noch greift. Hierfür nehmen wir Nichtstimmen in Kauf! Politik ist immer Verkauf. Ihr wisst nicht, wie viele parlamentarische Anfragen ich bereits stellte und wieviel ich als Politiker arbeite! Ihr wisst nur das, was ihr lest und hört. Bürger, achtet mehr auf die Qualität! Meine Hintergrundarbeit im Zuge meines Politikerdaseins beträgt oft 70 Arbeitsstunden pro Woche.“

"Niemand kennt noch die Unterschiede von Gesinnungs- oder Verantwortungsethik (Max Weber 1919). Die ersten drei Grundbedingungen, die für einen Politiker gelten, sind: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und ein distanziertes Augenmaß. Trifft dies auf Sie zu? Oder können Sie mir einen ihrer Kollegen nennen, wo dies zutrifft?"

„Wir von den Neos nehmen eine evidenzbasierende Politik sehr ernst. Wir versuchen, so sachorientierte Lösungen als möglich zu erarbeiten. Lösungen, die für Österreich passen. Wir blicken jedenfalls über den Wahltag hinaus. Die isolierte Abschaffung des Pflegeresses ohne Blick auf die mobile Pflege halte ich für einen schlechten Entschluss! Wir schauen uns andere Länder, wie Frankreich, Schweden usw an, und holen Studien ein. Mit diesem Wissen suchen wir Wege und erarbeiten Modelle, welche für unser Österreich passen. Wir sind nicht interessens- bzw. generationsgeteilt.“

"Herr Magister Loacker, glauben Sie an Gott?"

„Ja. Ich glaube an Gott. Aber! Ich glaube nicht an das Bodenpersonal. Ich bin nicht katholisch.“

"Es heißt, wir Menschen würden immer egoistischer und egomanischer. Was meinen Sie dazu?"

„Das passt zu dem Thema Erziehung. Da gibt es ja in diesem Wahlkampf das Zitat: hol dir, was dir zusteht! Wenn man gemeinschaftlich denkt und agiert, kann man sich mit dieser Einstellung nicht identifizieren. In der Schweiz denken die Menschen so: ‚Wir sind der Staat.‘ In Österreich ist es so: ‚Dort ist der Staat. Und hier bin ich.‘ Bei uns in Österreich herrscht kein gemeinschaftliches Denken. Die Förderungen zum Beispiel. Man holt sich diese ab, wo es möglich ist. Bedenkt aber nicht, dass man bei der Lukrierung von 100 Euro Fördergeld zuvor bereits 130 Euro in Form von Steuern bezahlte. Wir zahlten auch schon die Steuern.

Das Schweizer Modell in den Kantonen Appenzell und Glarus basiert auf der direkten Demokratie: Der Kantonsrat beschließt die Punkte, welche gemeinschaftlich abgestimmt werden sollen. Sämtliche Ausgaben unter 200 Tausend Franken werden ohne Volksabstimmung beschlossen. Über diesen Betrag hinaus soll das Volk – also jeder einzelne Bürger – seine Zustimmung geben. Es wird ein Abstimmungsbücherl verfasst und ca. drei bis vier Wochen vor der Termin den Bürgern zugestellt. Am ersten Sonntag im Mai oder am letzten Sonntag im April treffen sich dann alle auf einem großen Platz, wo abgestimmt wird. In der Zeit vor der Abstimmung wird natürlich viel über die Themen diskutiert. Ob im Wirtshaus oder andernorts. Es ist irgendwie fast ein wenig schändlich, wenn man nicht weiß, was die Abstimmungsthemen sind. Das hat viel mit Gemeinschaftsdenken und direkter Demokratie zu tun. Hierfür stehen wir Neos. Man kann also sagen, dass wir etwas schweizorientierter sind. Wir sind dafür, dass die Bevölkerung mehr abstimmen soll.“

Mario Bertolini

https://ichtuwas.neos.eu/manifest

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