Schreie hörte der kleine Junge. Laut und markerschütternd.
Der Bub befand sich oberhalb jenes Gehöfts, aus welchem diese fürcherlichen Schreie ertönten.
Krähennester wollte er plündern. Dort oben gab es welche. Wo die Bäume gut zu erklimmen waren. Die Eier aus den Nestern sollten als Taubeneier den immer noch wohlhabenden Städtern verkauft werden. Die "Leit aus da Stodt" hatten längst kaum mehr zu essen. Aber, Schmuck und allerlei einst Wertvolles hatten sie durch den Krieg gebracht. Nun war dies Zahlungsmittel.
Die Kräheneier waren ein gutes Geschäft. Die Eltern würden sich freuen über den tüchtigen Bub. Die Eltern... welche ihn aufgenommen hatten, da die leibliche Mutter nicht wusste, wie sie den Kleinen satt bekommt.
Die Schreie ließen ihn sein Vorhaben vergessen und ängstlich duckte er sich ins Gras. Immer noch war Krieg. Irgendwie. In Österreich.
Schreie. Einer Frau. Markerschütternd. So, dass dieser kleine Junge diese niemals mehr vergessen konnte.
Schüsse.
Ein paar fremde Soldaten liefen aus dem Haus - dort unten.
Der Bub schlich zum Gehöft. Die Tür des Hauses offen.
Die Bauersfrau lag auf dem Küchentisch. Blutig. Vergewaltigt. Und. Tot. Erschossen.
Daneben auf dem Fußboden. Lagen ihre beiden Kinder. Tot. Erschossen.
Ein drittes Kind. Das Jüngste lag vor dem Bett. Angeschossen. Noch atmend. Der Bub lief so schnell er konnte.
Hilfe holen. Durch den Fluß. Die Gölsen. Es waren ein paar Kilometer, die er lief. Nach Traisen. Zum Arzthaus.
.....
Der angeschossene kleine Junge überlebte als Einziger dieser Familie. Der Bub, welcher später mein Vater wurde erzählte sehr spät von dieser Geschichte.
Ich erfuhr jene erst nachdem dieser Bub, mein Vater zwei Tage zuvor verstorben war.
Die Grabrede schrieb ich. Und so fragte ich nach Geschichten aus dem Leben meines Vaters.
Gesellig war er. Mein Vater. Gern und viel unterhielt er sich.
Aber, nicht über alles.
Und so begann ich ein kleines Stück mehr zu verstehen.
Und zu bereuen.
Weil ich ihn - den Vater - oft verurteilte. Ob seiner Vergangenheit. Seiner Einstellungen. Geprägt durch seine Lebensgeschichte. Von der Mutter weggelegt. 1926.
Der Krieg. Die Zeit davor. Und, die Zeit danach hatten ihn geprägt.
Ich - im Wohlstand, welchen er und meine Mutter geschaffen hatten - aufgewachsen, prangerte ihn oft an.
Gerade in meiner Jugend wusste ich alles besser.
.... Als der dumme alte Mann.....
Später relativierte sich fast alles.
Mit jedem Tag. Mit jeder Erfahrung. Mit meinem eigenen Älter-Werden.
Der verletzte Bub übrigens sprach meinen Vater nicht an.
Er dankte ihm nie für das Hilfeholen.
Niemals hörte man diesen Mensch über das Erlebte sprechen.
Und mein Vater?
Nie erzählte er uns - seinen Kindern - diese Geschichte.
Als ich davon hörte, schrieb ich gerade an seiner Grabrede.
Verzeih mir bitte. Papa. Oft habe ich Dich durch mein Nichtwissen verurteilt.
Mein Nichtwissen war fatal. Je weniger ich wusste, desto sicherer war ich, alles zu wissen......
Verzeih!