Etty Hillesum war eine niederländische jüdische Slawistik- & Psychologiestudentin, die 27jährig im März 1941 mit ihren Tagebuchaufzeichnungen begann. Jene führte Etty bis zu ihrer Deportation fort.
2 Jahre später starb Etty in Auschwitz. Ihr Bruder Mischa, wie auch ihre Eltern Rebecca und Louis Hillesum wurden ebenfalls in Auschwitz ermordet.
"Auschwitz war die schiere Verachtung für alles Menschliche. Sie wollten die Opfer ein zweites Mal töten - indem Auschwitz vergessen wird. - 1,1 Millionen Menschen, davon 1 Million Juden wurde in Auschwitz ermordert." Zitat: Christian Böhmer, veröffentlicht heute in der Tageszeitung Kurier.
Aus der Einleitung des Buches "Das denkende Herz - die Tagebücher von Etty Hillesum 1941 - 1943" zitiere ich ein anderes Mal. Vielleicht. Nur so viel. Etty hätte gerne den Krieg und in ihrem Fall die Deportation überlebt. Sie wollte schreiben. Berichte, Bücher und wohl auch immer und immer wieder vor Menschen sprechen. Stets aus dem Herzen. Aus einem denkenden und fühlenden Herzen.
Lassen wir Etty heute sprechen. Denn, Etty war Jüdin und verstarb in Auschwitz.
Ich zitiere Etty aus einem Brief an ihre Freunde. Aus Westerbork kurz vor ihrer Verladung in den Waggon Nr. 12 nach Auschwitz.
Westerbork, 13.Juli 1943: "Der Mensch ist etwas Seltsames. Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hausen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal. Man sieht viele dahinsterbende Kinder. Aber man sieht auch viele gesunde Kinder. Vorige Woche kam in der Nacht ein Gefangenentransport bei uns durch. Wachsbleiche und durschsichtige Gesichter. Ich habe noch nie so viel Erschöpfung und Müdigkeit auf Menschengesichtern gesehen wie in jener Nacht. In dieser Nacht wurden sie bei uns "durchgeschleust": Registratur, nochmals Registratur, Durchsuchung durch halbwüchsige NSB-Burschen", Quarantäne, an sich schon ein kleiner Leidensweg von Stunden und Stunden. Am frühen Morgen werden die Menschen in leere Güterwaggons gepfercht. Dieser Zug wurde noch in Holland beschossen, deshalb der Aufenthalt. Und dann weitere drei Tage lang in Richtung Osten. Papiermatratzen auf dem Boden für die Kranken. Im übrigen kahle Waggons mit einer Tonne in der Mitte. Ungefähr 70 Menschen in einem geschlossenen Waggon. Man darf nur einen Brotbeutel mitnehmen. Ich frage mich, wie viele lebend ankommen. Und meine Eltern bereiten sich auf einen solchen Transport vor, falls es nicht doch unerwartet mit Barneveld klappt. Neulich ging ich ein wenig mit Vater in der staubigen Sandwüste spazieren. Er ist ganz herzlich und lieb und von einer schönen Gelassenheit. Er sagte sehr freundlich und ruhig wie beiläufig: "Eigentlich würde ich am liebsten schnell nach Polen kommen, dann habe ich es um so rascher überstanden, in drei Tagen bin ich tot, es hat ja doch keinen Sinn mehr, dieses menschenunwürdige Dasein forstzusetzen. Und warum sollte mir nicht auch geschehen, was tausend anderen geschieht?" Später lachten wir beide über die passende Landschaft, sie sieht oft wie eine Wüste aus, trotz der lila Lupinen, Kuckucks-Licht-Nelken und zierlichen Vögel, die Möwen ähneln. "Die Juden in der Wüste, diese Landschaft kennen wir noch von früher." Siehst du, das kommt einen hart an, so ein freundlicher kleiner Vater, dass man ab und zu am liebsten verzagen möchte. Aber das sind nur Stimmungen. Manchmal ist es auch anders, dann lachen wir beide und wundern uns über vielerlei. Wir begegnen hier vielen Familienmitgliedern, die wir seit Jahren nicht gesehen haben. Rechtsanwälten, einem Bilbliothekar usw. hinter Schubkarren voll Sand, in verschmutzten schlechsitzenden Overalls, wir blicken uns nur kurz an und sagen nicht viel. Ein junger trauriger Militärpolizist sagte in einer Transportnacht zu mir: "ich nehme in einer solchen Nacht fünf Pfund ab, und darf hier nur hören, sehen und schweigen." Und deshalb schreibe ich lieber nicht zuviel. Aber ich bin abgeschweift. Ich wollte nur dies sagen: das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf - ich kann nichts dafür, es nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt -: das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen - und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Haß, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden. Vielleicht bin ich eine ehrgeizige Frau: ich möchte ein sehr kleines Wörtchen mitreden."
Ich - wir - werde(n) dafür sorgen - Etty - wie Du sagtest; "Ich möchte lange leben, um es später doch noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde...."