Adventgeschichte: Das gewebte Band (18): Das Leben atmen

Magdalena betrachtete mit Wohlwollen wie sich das Leben um sie entwickelte. Ganz unschuldig war sie vielleicht nicht. Könnte man sagen. Schließlich hatte sie ihre Nichte eingeladen. Aber das war auch schon alles. Niemals hätte sie sonst diesen Schritt getan, aber jeden der darauf folgte, den hatte Maria aus eigenem Antriebe gesetzt, aus eigener Kraft und Stärke. Magdalena wusste nur allzu gut, dass sich im Leben nichts zwingen lässt.

Maria kam und blieb. Es wäre ihr offen gestanden wieder zu fahren, wann immer sie wollte, aber sie blieb. Aus eigenem Entschluss. Mehr noch, sie hätte ihre Einladung auch schlichtweg ablehnen oder gar ignorieren können. Magdalena tat was sie zu tun für richtig hielt. Alles andere überließ sie. Darin sah sie die große Kunst des Lebens, zu tun, was zu tun war, was für einen selbst zu tun war, und alles andere anheimzugeben und anzuvertrauen, auf dass jeder seinen Teil dazu beitrüge. Die Einladung schickte sie. Ihr zu folgen entschied Maria. Hierher zu kommen und sich umzusehen, das war die Tat von Maria. Darin sah sie auch eine Parallele, wenn auch nur eine kleine, denn Maria hatte Uwe zwar eine Postkarte geschickt, aber sie schrieb ihm nur, dass es ihr gut ginge und er sich keine Sorgen machen müsste. Das war noch nicht einmal eine Einladung, zumindest keine ausgesprochene. Maria schwieg sich darüber aus, aber Magdalena hatte schon den Eindruck, dass Uwe das Unausgesprochene gelesen hatte. Sie verstand auch in welcher Zwickmühle sich Maria befunden haben musste, denn wenn sie ihn einlud, so war es in die Einöde und damals wusste Maria nicht ob er nicht etwas erstaunt, wenn nicht gar empört auf solch eine Einladung reagiert hätte. So ließ sie es offen. Er hätte nun die Postkarte ad acta legen können und sich denken, wenn sie wiederkommt, dann geht das Leben ganz normal weiter, aber er entschied sich zu kommen, aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft und Stärke. So hatten sie über das Unausgesprochene zueinander gefunden, an einem Ort, an dem sie sich offenbar beide heimisch fühlten. Das hatten sie selbst getan, und Magdalena tat nichts weiter als die Hände in den Schoss zu legen und die Dinge zu beobachten, die um sie geschahen. Nichts tun ist nicht unbedingt Faulheit oder Ignoranz, sondern Zugeständnis an die Eigenständigkeit des Anderen. Das Leben zu atmen, das Leben atmen zu lassen. So kam es wohl wie sie es sich gewünscht hatte, aber vielleicht gerade, weil sie sich nicht einmischte.

Wohlgefällig ruhte ihr Blick auf dem alten Nazl, der mit Heißhunger die Suppe aß, die sie ihm zubereitet hatte. Er erholte sich sehr schnell, dank ihrer sorgsamen Pflege. Er wollte so schnell wie möglich wieder zurück in sein Häuschen, was Magdalena durchaus verstand, denn er war das Allein-sein gewohnt und wusste sich nur schlecht in einen Hausstand mit mehreren Menschen einzufügen. Er musste es auch nicht. Nur das Versprechen nahm sie ihm ab, dass er ab und an vorbeikäme, sich anschauen ließe.

„Du alter Sturkopf“, sagte sie zu ihm, „Du musst jetzt damit leben, dass wir Dich sehen. Schließlich will ich nicht, dass wir Dich gerettet haben und dann passiert wieder was. Außerdem schadet es Dir sicher nichts ein oder zwei Abende in Gesellschaft zu sein, sonst verlernst Du es zum Schluss noch ganz.“

„Du hast wahrscheinlich recht“, erklärte Nazl gemütlich und zugewandt, „Ich hätte das schon lange tun sollen, doch noch fürchte ich mich nicht vor anderen Menschen, also scheint es für mich noch nicht zu spät zu sein. Ein klein wenig ist es mir auch abgegangen, gebe ich gerne zu, aber meiste Zeit fühle ich mich sehr wohl in meiner Einsamkeit, nur umgeben von meinen Tieren, und ich bin so froh, dass die Hündin den Weg zu Euch gefunden hat.“

„Die Kleinen entwickeln sich wirklich prächtig“, bestätigte Magdalena, und nahm einen der kleinen Racker auf den Arm, der sich gerade übermütig daran machen wollte ihren Hausschlapfen anzunagen, „Ist ja klar, Du kleiner Lauser, hätte ich mir doch denken können, dass Du es bist.“

„Es ist nur traurig wegen der Hündin“, sagte der Nazl, plötzlich sehr ernst, „Es war ein wundervolles Tier, und ich habe sie im Stich gelassen.“

„Gräm Dich deshalb nicht“, meinte Magdalena nachsichtig, „Du hast es Dir auch nicht ausgesucht. Aber jetzt weißt Du ja, wer Dir helfen kann, wenn es Dir mit den Tieren zu viel wird oder Du nicht mehr die Kraft hast sie zu versorgen.“

„Aber Du kannst ja auch nicht hinaufkommen“, meinte Nazl erstaunt, „Du bist auch nicht viel jünger als ich.“

„Ich meinte auch gar nicht mich“, entgegnete Magdalena mit einem schelmischen Lächeln, „Ich denke gar nicht daran mich dort in die Einschicht hinaufzubegeben, aber wenn ich es richtig sehe, werde ich nicht mehr allein sein.“

„Wie meinst Du das?“, fragte der Nazl nach.

„Dass die beiden jungen Leute bleiben werden und Du sie zur Hilfe holen kannst, wenn Du sie brauchst“, antwortete Magdalena offen, „Ich habe manchmal den Eindruck, dass das Zuviel an Haben, wie er dort draußen in der anderen Welt herrscht, den Blick auf das Sein verstellt. Man muss ein wenig auf die Seite treten, heraus steigen aus den Rad um es wirklich erkennen zu können. Die Möglichkeit hat man hier. Dann erst, wenn man es gesehen hat, ist eine wirkliche Entscheidung machbar.“

„Das war ja auch der Grund warum ich hierher gegangen bin“, entgegnete der Nazl, „Es war wohl zu meiner Zeit noch nicht so schlimm wie heute, aber ich habe es schon damals nicht ausgehalten. Eines Tages, als ich nicht mehr weiter konnte, und damals hat man noch nichts gewusst von Burnout oder so, damals hieß es man hätte ein nervöses Leiden oder so etwas. Jedenfalls, ich machte einen Wochenendausflug, nur um zu Wandern, ganz allein, und dann fand ich den Hof, mitten im Wald, und außer um meine Sachen zu packen, ging ich nie mehr zurück. Von heute auf morgen habe ich alles hinter mir gelassen und es keinen Moment bereut. Denn der Besitz schränkt die Freiheit.“

„Ja, denn sobald ich nicht mehr aufbrechen kann, einfach so, dann bin ich unfrei“, bestätigte Magdalena, „Und er schürt das Misstrauen zwischen den Menschen. Sobald ich mehr besitze als jemand anderer, muss ich ständig auf der Hut sein, denn der andere könnte versuchen es mir wegzunehmen. Umso mehr ich habe, desto schlimmer wird es. Man verliert Freunde und kann nicht mehr offen mit den Menschen reden. Immer muss ich daran denken, dass es sich um einen potentiellen Dieb handelt. Das Leben ist umso einfacher, desto einfacher ich es mir gestalte.“

„Und auf was kommt es denn wirklich an?“, sann der Nazl, „Es geht darum am Puls des Lebens zu bleiben.“

„Das hätte mein Toni wohl genauso gesagt“, sagte Magdalena lächelnd.

„Vermisst Du ihn?“, fragte der Nazl mitfühlend.

„Jeden Moment des Tages“, antwortete Magdalena, „Und auch nicht, denn ich spüre seine Präsenz hier bei uns, ich spüre es aus dem Werk seiner Hände und aus den Spuren, die er in mir hinterlassen hat. Manchmal stehe ich am Zaun und es ist mir als wäre er präsent. Er legt seine Hand auf meine, wie er es damals tat. Er sieht mich an, wie er es damals tat. Es ist, als wäre unsere Beziehung nur auf eine andere Ebene gelangt, nichts weiter. Und dann bin ich mir sicher, dass ich wieder zu ihm komme. Wir werden wieder zusammenkommen.“

„Es ist wunderbar wie Du damit umgehst“, meinte der Nazl.

„Ich gehe nicht damit um“, widersprach Magdalena, „Es hat sich so gefügt. Sonst hätte ich wohl keinen Tag weiterleben können.“

„So gehen die Menschen nicht einfach weg und lassen uns alleine, so lange es jemanden gibt, der an sie denkt und sie bleiben lässt“, sagte der Nazl, „Und wenn es einmal niemanden mehr gibt, dann ist es auch recht. Auch wenn die Menschen der Religion abschwören, sie wollen immer noch etwas, was nach ihrem Tod bleibt. Ist es nicht eigentlich unsinnig? Warum fällt es uns so schwer abzuschließen?“

„Ich bin bereit“, meinte Magdalena mit Überzeugung, „Ich habe getan was zu tun ist. Alles andere wird sich finden.“

„Wozu bist Du bereit, Tante?“, fragte Maria, die mit Uwe ins Haus trat und wohl den letzten Satz gehört hatte.

„Ich bin bereit das Abendessen zu zu bereiten“, erwiderte sie lächelnd, „Und vielleicht kannst Du mir diese Rabauken ein wenig vom Hals halten, damit ich nicht versehentlich auf einen draufsteige.“

So übernahm Uwe die Aufsicht der Welpen, während Magdalena und Maria geschäftig in Küche und Stube waren, so dass sie sich alsbald gemeinsam an den Tisch setzen konnten, miteinander zu essen, während das Webschiffchen dies am Webbild des Lebens festhielt. Und es war der Abend des achtzehnten Advents.

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