Adventgeschichte: Das gewebte Bild (10): Im Leben verloren

Maria hatte also ihr Lager neben dem der Hunde aufgeschlagen. Trotzdem sie sich wie erschlagen fühlte, fand sie doch keine Ruhe. Unverwandt lauschte sie in die Dunkelheit, aber sie hörte kaum etwas anderes als die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge von ein paar Lebewesen, von denen sie bis vor wenigen Stunden noch nicht einmal wusste, dass sie auf der Welt waren. Still lag sie da, versuchte Schlaf zu finden. Was war es, das sie so anrührte, dass alles andere plötzlich nebensächlich erschien? Was war geschehen, dass sie in diesem Moment genau wusste, dass es nur eine adäquate Möglichkeit gab zu reagieren? Das Leben selbst hatte sie aufgefordert eine Entscheidung zu treffen. Und Maria hatte sie angenommen. Die Frage war die nach einer Annahme, und ihre Antwort war klar und eindeutig, Ja. Nicht nur in Worten, auch in ihren Gedanken, in ihren Taten, war es reinste Zustimmung. Fokussierend auf diesen Moment des Gebraucht-werdens. Hineingestoßen in eine Situation, in der es nicht mehr abzuwägen gab, sondern eine Hinwendung verlangt wurde, heruntergebrochen auf die existenziellsten aller Bedürfnisse. Nahrung. Zuwendung. Schutz.

Und als der Morgen graute, als der Hahn krähte, da legte Maria die Hand auf die Hündin, auf ihren ausgemergelten, ausgezehrten Leib. Er war kalt. Sie lag da, als wäre sie noch im Schlaf befangen, doch es war ein Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachen würde. Dennoch drückten sich die Welpen verzweifelt an sie, als könnten sie ihrer Mutter durch ihre Wäre das Leben zurückgeben. Die kleinen Schnauzen stupsten sie in die Seite, als könnten sie sie dazu bringen sich zu bewegen. Doch es rührte die Mutter nicht mehr. Nichts mehr konnte sie rühren, sie erreichen.

„Nun hat sie Ruhe gefunden“, sagte Magdalena in sanftem Ton, als sie sich an diesem Morgen neben ihre Nichte setzte, „Erst jetzt, da sie wusste, sie hatte ihre Welpen an jemanden übergeben, der sich um sie kümmern würde.“

„Aber woher wusste sie es? Woher wusste sie, dass wir sie und ihre Kleinen nicht genauso schäbig behandeln wie ihr Besitzer?“, fragte Maria irritiert, die noch immer nicht viel wusste von den verschlungenen Wegen, die das Leben findet sich selbst zu erhalten.

„Es gab für sie nichts zu wissen. Wissen ist nicht immer die richtige Kategorie“, versuchte Magdalena zu erklären, mit Worten, die in eine Welt gehörten, die Maria bisher fremd war, eine Welt voller lebendiger Wunder, und doch vermochten sie die Welt der Rationalität, in der Maria bisher gewohnt hatte, zu erreichen und zu bereichern, „Es war wohl nichts weiter als eine Ahnung, ein Instinkt, dem sie folgte. Es gab nur eine Chance. Sie hatte keine Zeit langwierig abzuwägen, sondern sie musste handeln. So setzte sie alles auf eine Karte, indem sie auf uns setzte.“

„Ungeachtet ihrer selbst, ihres eigenes Lebens“, meinte Maria nachdenklich.

„Es ist der unfehlbare Instinkt einer Mutter, einer jeden Mutter. Vielleicht ist es auch das, was es der Frau erlaubt das Leben auf eine andere Weise zu verstehen als der Mann“, sann Magdalena, „Das Leben, aber auch den Tod. Sie ist die unmittelbare Übermittlerin, der Mann nur der mittelbare, aber beide haben ihren Zugang, beide ihre Rolle, die erst im Miteinander des Erfahrens ein Ganzes entsteht, wo sich die beiden Blicke, die beiden Welten einen und sich ergänzend versöhnen.“

„Nicht in der Abgrenzung, in der Abwägung von besser und schlechter, sondern im Belassen in der Eigenheit des spezifischen Erlebens, das ist wohl das Geheimnis eines harmonischen Miteinander“, versuchte Maria sich auf einem Gebiet, auf dem sie alles andere als sicher war, doch es war ein Wagnis, aus das es sich einzulassen galt, „Es ist nicht leicht.“

„Ganz und gar nicht, aber es wird reich belohnt, mit innerer Fülle und Reichtum“, sagte Magdalena leise, „Die Ankunft anzunehmen, mitzugehen, um den Abschied mitzutragen, das ist in letzter Konsequenz das Geheimnis des Lebens. Es ist eine Aufforderung zu uns selbst und zu all den Geschöpfen, die uns umgeben. Vieles relativiert sich, wenn man einmal diesen Zugang für sich geöffnet hat.“

Sachte nahm Maria die kalte, in einem immerwährenden Schlaf befangene Hündin, auf ihre Arme. Leicht fühlte sie sich an, als hätte sie all die Sorge, die sie umgetrieben hatte, und auch die Beschwerlichkeiten hinter sich gebracht, so dass sie in Ruhe und Stille gehen konnte. Sie ging mit ihr hinaus, um ihr hinter dem Haus, unter einer Tanne ein Grab zu bereiten. Und der Schnee, der noch fallen würde, würde es zudecken, so dass bald nichts mehr davon sichtbar sein würde, aber Maria würde ihrer gedenken, jedes Mal, wenn sie an dieser Tanner vorüberkäme. Es war ein guter Platz unter dem riesigen, stolzen, hochaufragenden Baum mit den ausladenden Ästen. Doch Maria hielt sich nicht lange auf, denn sie wusste, dass da jetzt im Haus jemand war, der ihrer bedurfte, im wahrsten Sinne des Wortes, und die Hündin, die sie gerade begraben hatte, würde es gutheißen. Schließlich war sie es selbst gewesen, die Maria ihre Kleinen anvertraut hatte. Wie nahe doch Tod und Leben beieinander liegen. Fraglos hatte die Hündin das ihre für ihre Welpen aufgeopfert, dass das Leben weitergeht.

„Damit das Leben weitergeht ...“, wiederholte sie für sich selbst, doch wo hatte sie diesen Satz schon einmal gelesen? Und wie von Ferne stiegen die Zeilen des Gedichts von Walt Whitman auf:

Wozu bin ich? Wozu nutzt dieses Leben?

Die Antwort: Damit du hier bist.

Damit das  Leben nicht zu Ende geht, deine Individualität.

Damit das Spiel der Mächte weiter geht

und du deinen Vers dazu beitragen kannst.“

„Der Nutzen des Lebens, ist dass ich hier bin, dass durch mich das Leben weitergeht?“, dachte Maria, „Bin ich also nichts weiter als eine Glied in einer langen Kette der Generationen? Nichts weiter als eine Verbindung, die sich einfügt? Nichts weiter? Und wenn ich das letzte Glied in der Kette bin, wenn nach mir nichts mehr kommt, dann gibt es viele andere Ketten, die weiterlaufen und es ist letztlich egal. Ich gehe und mit mir endet die Kette und das war es dann? Das soll es gewesen sein? Hat das Leben denn einen Sinn, wenn man nichts ist als ein Glied in der Kette, die zwar sonst abreißt, aber dem Großen und Ganzen macht dieses Abreißen nichts. Es ist dann, als wäre ich nicht gewesen. Acht oder neun Jahrzehnte hier zu sein, vielleicht auch weniger, vielleicht mehr, was doch auch keine Rolle spielt, weil es keine Spuren geben wird, weil alle sich umdrehen und gehen, wenn sie sich überhaupt hingedreht haben. Sicherlich, es gibt sie, die Menschen, von denen man noch nach Jahrhunderten spricht, deren Lebensdaten und Werke Generationen von Schülern indoktriniert werden, aber wie viele sind das schon, aus all den Millionen und Abermillionen, die je gelebt haben. All die Vergessenen, all die nicht einmal Vergessenen, weil sie nie jemand im Gedächtnis hatten. Ein Waisenkind, das ganz allein in der Welt steht. Ein kleiner Soldat, tapfer zwar, aber verloren, wenn er heimkommt, verlorener, als wenn er sein Leben auf dem Schlachtfeld gelassen hätte, verlorener als ein Staubkorn im Wind. Der Platz neben seiner Frau, den findet er besetzt. Die Mutter tot. Der Vater tot. Weil sie es nicht ertrugen. Abgeschoben. Nutzlos. Nicht einmal mehr vergessen, weil sie niemand mehr sieht, weil sie niemals waren, weil sie keinen Blick und keinen Gedanken auf sich zogen, weil sie niemals Beachtung erfuhren. Weil sie waren, ungesehen und unerinnert. Und das Spiel der Mächte wird weitergehen, auch ohne mich, ohne mich, ohne Dich und so viele andere auch. Unaufhaltsam. Das Spiel der Mächte, die uns durchrütteln und wie Marionetten verschieben, in einer Welt die voller Ohnmächtiger ist. Und ich bin eine von ihnen. Doch in ihrer Unbedeutsamkeit sind wir alle voneinander isoliert. So entsteht das Ich. Jeder für sich alleine, bis auf die wenigen Glücklichen. Aber wer ist das schon. Jeder ist eine Insel, inmitten eines Ozeans des paralysierten Schweigens.“

Und Maria ging zurück ins Haus, sich dennoch zu kümmern. Vier Welpen, die gefüttert werden mussten. Eine Großtante, die sie unterstützen wollte und eine offene Frage, die in ihr bohrte. Vielleicht war es keine Frage mehr, weil sie die Frage nicht mehr sehen wollte, wo sie doch die Antwort in der Sinnlosigkeit, im Nihilismus gefunden hatte. Aber wenn es doch ganz gleich war, dann konnte sie auch weitermachen. Einfach weitermachen. Damit die Zeit verginge. Bloß deshalb. Dass man seine Kräfte einsetzte, müde wurde und schlafen konnte. Bloß deshalb. Vielleicht war es auch das Einzige. Zusehen, dass die Zeit verginge, zusehen, dass man müde genug war, dass der Schlaf die Gedanken ablöste. Bloß das.

Und diesmal war es ein dumpfes Grau, das am Ende des Webschiffchens hing, das hurtig eine neue Reihe dem Webbild des Lebens einfügte, so dass die Farben sich dämpften und der Schatten sich auch über helle Stellen legte. Doch es war nicht ganz dunkel, war noch Grau und nicht Schwarz. Und es war der Abend des zehnten Advents.

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Silvia Jelincic

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