Und es ward wieder ein Morgen. Magdalena saß neben dem Ofen, an dem Platz, an dem ihr Mann eingeschlafen war um nie wieder zu erwachen. Es hatte den Anschein, als wollte sie ihm folgen, doch noch war sie nicht bereit. Maria wehrte sich gegen den bloßen Anschein, indem sie tat was zu tun war. Mittlerweile hatte sie es in die Hand genommen. Die Alltäglichkeit, die Arbeit jeden Tages. Sie versorgte die Tiere und kümmerte sich um den Stall, besorgte den Haushalt, doch es hatte sich etwas verändert, etwas in ihrem Zugang zu dieser Arbeit. Hatte sie zunächst immer versucht alles so schnell wie möglich zu erledigen, entsprechend den Vorgaben, die ihr über viele Jahre eingebläut wurden. Alles muss so effizient wie möglich vonstatten gehen. Doch nun hielt sie schon mal inne, streichelte eines der Tiere.
Martin, der kleine graue Hausesel, ließ es sich mittlerweile angelegen sein auf sie zuzutrotten und sie mit seinem Maul zu stupsen. Als es das erste Mal geschah wusste Maria nichts damit anzufangen, ja mehr noch, sie wich erschrocken zurück, da sie nicht gelernt hatte mit den Tieren zu sprechen, doch nach und nach begriff sie, denn wenn sie dann ihre Hände auf seinen Hals legte und ihn streichelte, wenn sie ihn zwischen den Ohren kraulte, dann hielt er ganz still, so dass er diese Zuwendung einfach genoss und geschehen ließ, um sich dann wieder umzudrehen und zu den anderen zu gesellen. Einfache, schlichte Aufforderung und Annahme. Wie oft begegnen wir auch unter Menschen einfachen, schlichten Aufforderungen, die wir nicht verstehen, trotz all der Worte. Hier bedurfte es gar keiner Worte, wenn man sich nur entsprechend einließ. Vielleicht war es zwischen den Menschen sogar wegen all der Worte. All die vielen Worte, die ein Verstehen oft mehr verdeckten und verhüllten als aufdeckten und sichtbar machten. Als erst hatte Maria noch gedacht, dass sie dadurch Zeit verlöre. Schließlich hatte sie ihre Arbeit zu machen. Ein Widerspruch zur Effizienz. Doch es geht nicht nur um Effizienz, sondern um ihr Leben, das sie nicht mehr länger von starren Axiomen dirigieren lassen wollte, sondern mit Lebendigkeit füllen.
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Und wenn sie innehielt, so war es eine Zuwendung und ein Erkennen, dass es auch anderes gibt, das zählt. Möglich, dass sie auf diese Art und Weise ein paar Minuten länger brauchte, möglich, aber in der Hinwendung geschah es, dass sie die Bedürfnisse der Tiere erkennen lernte. Es waren kleine Anzeichen, die man nur sah, wenn man wirklich hinsah. Es konnte eine Haltung sein, die Art die Ohren anzulegen oder aufzustellen, die Art sich zu bewegen, zu stehen. Um zu sehen, so erkannte Maria, genügt es nicht nur die Augen aufzumachen, sondern man muss auch hinsehen und das Gesehene in sich dringen lassen. Vielleicht ist das der tiefe Sinne des Satzes, den Antoine de Saint-Exupéry seinen Kleinen Prinzen sagen lässt, dass man nur mit dem Herzen gut sieht. Maria hatte bis jetzt nicht verstanden was das eigentlich sollte, zumal wenn sie jemanden in tiefes Seufzen verfallen sah, wenn dieser Satz fiel. „So ein Unsinn“, dachte sie dann regelmäßig, „Bei aller künstlerischen Freiheit, man sieht nicht mit dem Herzen, denn das Herz hat keine Augen. Außerdem ist es nichts weiter als ein Organ, das seine Aufgabe erfüllt.“ Doch nun begann Maria zu verstehen.
Das Sehen mit den Augen ist die eine Seite, die Grundvoraussetzung, aber was wir von dem Gesehenen an uns heranlassen, was wir in uns aufnehmen und wirklich verstehen, das ist das mit dem Herzen gesehene, das uns berührt, das uns angeht. Das ist das wahre Sehen. Und der nächste Schritt ist die Konsequenz, die wir daraus ziehen. Der Bettler, den Maria bis jetzt so gut umrundet hat, sie hat ihn gesehen, doch sie wandte gekonnte und gewollt den Blick ab, weil sie nicht wollte, dass er sie anrührte, weil ihr seine Armut peinlich war, weil sie sich nicht anrühren lassen wollte. Er war in seiner Welt und sie in der ihren, ohne Berührungspunkte.Aber sie ließ sich ja nicht nur von dem Bettler nicht berühren, sondern von niemandem. Es gab keinen Menschen, den sie an sich heranließ. Noch nicht einmal Uwe, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde. War es denn mehr als Show, die sie für die anderen ablieferte? Was wusste sie schon über ihn, außer dem, was sie immer wieder stolz erzählte? Seine Ausbildung, seine Ambitionen, sein Ehrgeiz, als würde sie von sich selbst als Spiegelung erzählen. Nichts weiter als Missbrauch eines Menschen um sich in ihm zu spiegeln. Sie wusste nicht woher er kam. Ab und zu, wenn er sich nicht gänzlich unter Kontrolle hatte, da gewahrte sie einen Dialekt in seiner Sprache, den sie aber nicht zuordnen konnte. Jedes Mal, wenn es geschah, hatte sie so getan, als hätte sie es nicht gehört, hatte es ignoriert und damit ihn in seiner Herkunft. Sie merkte, dass sie sich peinlich berührt fühlte, dass er so etwas wie eine Herkunft hatte. Wohl nicht die Tatsache an sich, denn schließlich haben wir alle eine Herkunft, aber was, wenn es eine war, die ihr misshagte, eine, so wie sie sie hatte und die sie begraben wähnte, weit weg unter den Trümmern eines Gestern, einer Vergangenheit, die sie abgerissen hatte, in sich zusammenfallen ließ, doch es gab keine Möglichkeit sich gänzlich von ihr zu befreien. Aber jetzt, jetzt wollte sie es wissen. So gerne hätte sie ihn gefragt.
„Wer bist Du?“, fragte Maria, mitten im Stall stehend, Martin zwischen den Ohren kraulend. Der Esel, der ein Ohr zu den anderen Eseln gewandt hielt, richtete das andere auf Maria, als würde er interessiert zuhören.
„Ich hatte einen Traum“, begann Maria zu erzählen, als sie an diesem Abend mit ihrer Großtante beim Abendessen saß, „Ich hatte einen Traum, in dem ich den Tieren half. Den alten, den kranken, den verwundeten. Alle kamen zu mir oder wurden zu mir gebracht, die ausgesetzten, die verstoßenen, die verlorenen, und ich habe sie alle aufgenommen.“
„Das war es, was Du damals wolltest“, sagte Magdalena schlicht.
„In welchem Damals?“, fragte Maria irritiert, denn diesen Traum hatte sie in der letzten Nacht gehabt.
„Damals, in dem Sommer, da Du bei uns warst“, erwiderte ihre Großtante, „Du warst mit Toni im Wald, wie so oft, da habt ihr einen Fuchs aus einer Falle gerettet, ihn mit nach Hause gebracht und gesund gepflegt. Da hast Du gesagt, das wäre es, was Du später einmal machen möchtest, Tiere retten.“
„Ich erinnere mich“, erklärte Maria, nachdem sie sich nochmals kurz besonnen hatte, „Es war ein Traum, der mich zurück führte in die Vergangenheit. Wie konnte ich das nur vergessen?“
„Weil sich die Prioritäten ändern“, entgegnete Magdalena, „Weil Du offenbar einen anderen Weg eingeschlagen hast.“
„Und ich habe es völlig vergessen“, meinte Maria, „Dabei war es so schön zu erleben wie der Fuchs nach und nach gesund wurde und eines Tages einfach in den Wald lief, zurück in seine Welt, zu seinesgleichen, auch wenn mir der Abschied schwer fiel. Ein Teil von mir hätte sich gewünscht, dass er bleibt, aber ein anderer wusste, dass er nur dort draußen glücklich sein konnte, glücklich nach Fuchsart. So wie wir Menschen gehen lassen müssen, so sehr wir uns auch wünschten, dass sie blieben.“
„Abschied nehmen und in der Liebe bleiben, das ist das Geheimnis“, schloss Magdalena diese Gedanken ab, und während der Raum sich ins Dunkel hüllte, durch nichts erleuchtet als durch das Flackern der Kerzen, den Schein des Feuers aus dem Kamin, während die Stille sich ebenso warm und behütend ausbreitete wie das lebendige Licht, kuschelten sich die vier Welpen an sie und Maria wusste, dass genau das ein Teil dessen war, was sie so lange gesucht hatte, aber nicht finden konnte, weil sie am falschen Platz gesucht hatte. So sah sie ihre Großtante an, und ihr Sehen war Wahr-nehmung. So sah sie die Welpen an, und ihr Sehen war Wahr-nehmung. Und die Wahrnehmung ward Erlaubnis sich anrühren zu lassen, Berührung die verwandelt. Und es war auch der Beginn eines Abschieds, den sie vorerst nur ahnte.
Und das Webschiffchen, das eine neue Reihe am Webbild des Lebens hinzufügte, zeigte, dass der neu begonnene Weg sich fortsetzte. Und es war der Abend des zwölften Advent.