Es war wie ein Überfall. Hatte am Vormittag noch die Sonne geschienen ohne jedes Hindernis die Welt erhellt, so dass sie den Blick weit schweifen lassen konnten. Ruhig und gelassen lag sie da, die Umgebung, die in ihren Augen die Welt war, oder zumindest der Teil der Welt, in dem sie sich mittlerweile heimisch fühlten, in dem sie wirkten und werkten, der sie unmittelbar anging. Die Menschen, die sie umgaben, die Tiere, um die sie sich kümmerten, und die sich auch um sie kümmerten, denn eine Begegnung ist niemals eine Einseitigkeit, auch nicht die zwischen Tier und Mensch. Die Begegnung zwischen Tier und Mensch hat auch der allein menschlichen etwas Entscheidendes voraus. Sie ist immer eindeutig. Natürlich sieht man es nur, wenn man es sehen will, aber sie ist es. Wenn sich ein Tier zuwendet und Vertrauen fasst, dann kommt es auf einen zu und drückt es aus. Wenn es sich abwendet, dann in aller Eindeutigkeit. Es fragt nicht nach Dingen wie Höflichkeit oder Verpflichtung, es ist wie es ist. Und es fehlen ihm die Worte, die zu Missverständnissen führen. Es hat nur seinen Körper um dem Ausdruck zu verleihen, was es will. Es genügt. Nicht, dass der Mensch nun auf Worte verzichten und auf bloße Körpersprache zurückgreifen sollte, aber er sollte danach trachten seine Worte der Eindeutigkeit des Ungesprochenen anzunähern. Wie oft handeln wir gegen unsere eigenen Worte? Wie oft strafen unsere Worte unserer wahren Gesinnung Lüge? Wie oft verbergen wir uns und umgeben uns mit einem Nebel aus Worten, der nicht viel mehr ist als wasserschwere Luft? Schall und Rauch, ganz ohne Feuer?
Die Welt erstrahlte durch die Sonne, und dann kam der Nebel, brach herein, und die Strahlen der Sonne drangen nicht mehr hindurch. Man weiß, dass sie da ist, irgendwo hinter dem Nebel, hinter den Wolken, aber es ist als würde es sie nicht geben. Der Nebel verschlingt die umliegende Welt und begrenzt unser Gesichtsfeld auf das Wenige, was uns unmittelbar umgibt. Wir wissen, dass die Welt nicht vergeht, nur weil wir sie nicht sehen, aber dennoch erscheint uns unser Zugang reduziert und eingeschränkt. Wir haben Angst uns zu verlieren, wenn wir uns in diesen Nebel begeben.
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„Der Nebel nimmt uns die Sicht. Ich kann nicht einmal mehr den Stall erkennen, wenn ich aus dem Fenster sehe“, meinte Uwe, als er das Schauspiel vor dem Fenster entdeckte, gerade als sie zusammensaßen um Tee zu trinken.
„Nicht einmal der Weihnachtsbaum ist zu sehen. Alles wie verschluckt, wie untergegangen“, sagte Magdalena.
„Ob es den Tieren wohl gut geht auf der Weide?“, fragte Maria plötzlich.
„Denen geht es sicher gut“, antwortete der Nazl, als gäbe es keine andere Möglichkeit.
„Warum bist Du Dir so sicher?“, fragte Maria deshalb weiter.
„Weil sie sich in Sicherheit wissen. Rund um sie der Zaun, der sie schützt vor unliebsamen Besuchern. Sie denken nicht, dass der verschwindet, nur weil er im Nebel liegt. Es ist wie es ist. Nur der Mensch vertraut allzu sehr auf das, was er sieht oder was ihm gezeigt wird“, erklärte der Nazl.
„Was meinst Du damit, was ihm gezeigt wird?“, warf nun Uwe ein.
„Es ist ganz einfach“, entgegnete der Nazl, „Zuerst wird alles dafür getan eine Sache, die wir sehen sollen, ins rechte Licht zu rücken. Grell wird es beschienen, mit Scheinwerfern, und was passiert mit dem Rundherum, wenn es mitten drinnen extrem starke Scheinwerfer gibt, die alles überstrahlen?“
„Es versinkt in Dunkelheit“, meinte Maria folgerichtig.
„Und so sehen wir nur das, was wir sehen sollen“, sprach der Nazl weiter, „Wir fragen nicht nach den Umständen, nach dem, was zuvor geschah, nach der Ursache. Unser Denken wird bewusst vernebelt. Wenn wir es zulassen.“
„Und dabei gibt es zu jeder Geschichte eine andere, die der voranging. Wir fragen nicht, weil wir nicht sehen“, ergänzte Maria, „Und dennoch, ich kann es verstehen, denn ich fühle mich gerade wie eingekesselt, als könnte ich diesen Ort nie mehr verlassen, weil im Nebel die Orientierungslosigkeit lauert. Wenn ich es wage mich hineinzubegeben, dann werde ich eingeschlossen, alles sieht darin gleich aus. Ich habe keine Möglichkeit mehr irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, die mir sagten wo ich mich befinde. Es wirkt wie ein Untergang.“
„So soll es auch sein“, meinte der Nazl, „Du sollst in Deinem Haus festgezurrt werden. Nicht der Nebel dort draußen tut es, der ist einfach da und vergeht wieder, aber der Nebel, in den wir immer mehr gestellt werden, und der dazu führt, dass das Erkennen der Welt immer mehr zusammenschrumpft. Vernebelt mit dubiosen Glaubenssätzen, die sehr viel nachhaltiger in unserem Denken verankert sind als es die Dogmatiker mit den ihren je gekonnt hätten. So wird uns gesagt, dass wir Geld verdienen müssen.“
„Nun, das ist auch notwendig, in einer arbeitsteiligen Wirtschaft“, warf Uwe ein.
„Natürlich, so wie die Gesellschaft, die Wirtschaft aufgebaut ist, ist es notwendig, doch es ist noch mehr als unseren Lebensunterhalt zu verdienen“, sagte der Nazl, „Es geht um unseren individuellen Beitrag zum Bruttonationalprodukt, es geht darum unsere Wirtschaft am Laufen zu halten. Denn nur wer arbeitet, kann konsumieren, und nur, wenn konsumiert wird, gibt es auch Arbeitsplätze, und nur, wenn es Arbeitsplätze gibt, können wir arbeiten und nur, wenn wir arbeiten, können wir konsumieren und immer so fort. Es leuchtet uns ein. Es leuchtet jedem ein. Weil es so einfach, klar, übersichtlich und sauber ist. Aber dabei übersehen wir gerne, dass sich die Welt verändert hat, denn diese Glaubenssätze sind mit der modernen Welt nicht mehr kompatibel.“
„Weil die Arbeit immer weniger wird?“, fragte Uwe nach.
„Nein, nicht die Arbeit wird weniger, denn es gibt so viel zu tun. Immer mehr Kinder verwahrlosen. Immer mehr Alte werden ihrem Schicksal überlassen. Immer mehr Pflegebedürftige werden einfach abgeschoben. Immer mehr psychisch Kranke einfach ruhiggestellt“, resümierte der Nazl, „Was immer weniger wird, das ist die Art von Arbeit, die als solche anerkannt wird, denn darunter wird nur mehr entgeltliche Erwerbsarbeit verstanden. Wenn sich eine Mutter um ihr Kind kümmert, dann ist das bestenfalls eine nette Freizeitbeschäftigung. Aber wenn die Mutter ihr Kind einer Tagesmutter übergibt, die genau dieselbe Arbeit macht, dann ist es anerkannte Arbeit, weil sie damit Geld verdient und das BIP erhöht. Wenn eine Frau ihre Mutter pflegt, dann ist das ihr Privatvergnügen und sie soll sehen wie sie damit klar kommt, doch wenn die Mutter in einem Heim gepflegt wird, dann ist es wiederum erst richtige Arbeit, auch wenn die Pflegeleistungen identisch sind. Auf der anderen Seite haben wir so viel Arbeit wegrationalisiert, dass wir viele Menschen in eine Art der Erwerbsarbeit drängen, die ihnen gerade mal erlaubt zu überleben. Aber dadurch haben sie weder die Zeit noch die Kraft zu fragen ob es nicht auch anders ginge. Jede einzelne Bestellung bei Zalando gefährdet einen Arbeitsplatz im Handel und drängt die Verkäuferin in einen als Lagerarbeiterin, für die viel weniger bezahlt werden muss. Das ist dann das, was als nicht altmodisch bezeichnet wird. Und so fügen wir uns bereitwillig ein, als kleines Rädchen in der großen Maschinerie der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft.“
„Und lassen uns immer mehr das Hirn vernebeln“, fügte Maria hinzu.
„Es ist wohl so wie mit dem Nebel dort draußen“, sagte nun Magdalena, „Auch wenn wir hier glauben, dass der Nebel alles einnimmt und verschlingt, so kann es doch sein, würden wir beherzt ein paar Schritte hineintun, dass bereits nach wenigen Metern wieder Helligkeit ist, dass es hinter der Nebelwand einen anderen Weg gibt.“
„Wie lange habe ich mich doch hinter meiner eigenen Nebelwand versteckt und die Sonne nicht sehen wollen“, meinte Maria nachdenklich, „Dabei hätte ich nur ein paar Schritte tun müssen, um die Welt um zur Sonne zu finden. Vielleicht bedarf es auch eines kleinen Anstoßes um es zu wagen, diesen Schritt in den Nebel.“
Es bestand wohl kein Zweifel daran, wer diesen Anstoß gegeben hatte.
Als sie das nächste Mal den Blick aus dem Fenster warfen, war der Nebel im Begriff sich aufzulösen und die Welt wurde wieder sichtbar, so wie sie immer da war. Und das Webschiffchen war eifrig daran eine neue Reihe zum Webbild des Lebens hinzuzufügen. Und es war der Abend des einundzwanzigsten Advents.