Maria war fahrig und unkonzentriert an diesem Tag. Immer wieder fiel etwas aus ihrer Hand, als würden ihre Hände keinen Bezug finden zu dem Anzufassenden. Sie schüttete sich gar das heiße Teewasser über die Hand. Dann stand sie, sehr lange, beim Wasserhahn und kühlte die verbrühte Stelle mit kaltem Wasser. Sie hatte ihr Gleichgewicht verloren und eine innere Unruhe ließ es nicht zu, dass sie bei der Sache blieb.
„Es setzt Dir zu“, sagte Uwe unvermittelt, zwischen das Fließen des Wassers und das Zischen des Wasserkessels. Verwirrt sah ihn Maria an, als hätte sie nicht verstanden. Ein paar Mal ging sie den Satz durch. Eigentlich ein sehr einfacher Satz, aber die Bedeutungen kullerten durcheinander. Die Worte fanden keinen Zusammenhang, als wären sie wahllos aus verschiedenen Zeitungen ausgeschnitten und achtlos zueinander gestellt worden. Erst nach und nach kam es zurück, das Verstehen.
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„Was sollte mir denn zusetzen?“, fragte Maria, die sich auch nicht sicher war ob Uwes Satz eine Aussage oder eine Frage war. Wie kann man mit einem Satz umgehen, denn man nicht zu deuten vermag?
„Die Auseinandersetzung mit Deiner Mutter“, erklärte er ruhig und sachlich.
„Das war keine Auseinandersetzung“, entgegnete Maria gereizt, „Denn es gibt nichts auseinanderzusetzen. Ich habe ihr meine Meinung gesagt und ihr ihre Selbstsucht verziehen. Dass sie mich nicht versteht, das ist mir doch so ziemlich egal.“
„Nein, es ist Dir nicht egal“, meinte er entschieden, „Es belastet Dich, weil Du ihr nicht erklären konntest, was Dir wichtig ist. Im Grund wünscht Du Dir doch, dass sie Dich versteht und Dir Deinen Segen gibt.“
„Ich brauche ihren Segen nicht. Ich weiß sehr gut selbst was ich tue. Schließlich bin ich alt genug“, erklärte Maria trotzig.
„Es ist völlig egal wie alt Du bist oder wie sicher, sie ist Deine Mutter. Das ist eine ganz eigene Beziehung“, erwiderte Uwe geduldig, „Ist es nicht so, dass Du Dein Leben lang versucht hast ihr zu gefallen? Wolltest Du nicht, dass sie stolz auf Dich ist, dass sie Dich anerkennt? Das kannst Du nicht einfach so von einem auf den anderen Tag ablegen und so tun, als gäbe es das nicht.“
„Und was soll ich dann Deiner Meinung nach tun? Das was sie will?“, fragte Maria gereizt.
„Nein, das nicht, aber wenn Du es Dir eingestehst, dann hast Du die Möglichkeit damit umzugehen und eine Versöhnung mit Deiner Vorstellung von Dir als guter Tochter und als eigenständigen Menschen bewirken“, erklärte Uwe, „Eine Versöhnung, die Dich wirklich freimacht und nicht nur eine vorübergehende Vergessenheit bedeutet. Du kannst Dich vielleicht selbst täuschen, aber nicht auf die Dauer selbst belügen.“
„Eine Versöhnung, ja das würde ich mir wünschen“, meinte Maria nachdenklich, „Eine Versöhnung. Warum ist es nur so furchtbar schwer das Kind in sich hinter sich zu lassen, frei zu sein für das eigene Leben?“
„Es gibt zwei Gründe. Der erste ist die Loyalität, die man meint seinen Eltern in der Form zu schulden, indem man ihre Erwartungen erfüllt. Wobei diese Erwartungen ungerecht sind, sofern sie das Leben des eigenen Kindes nicht befördern“, meinte Uwe, „Der zweite Grund ist, dass wir immer nach der Liebe unserer Eltern verlangen, vor allem dann, wenn wir sie nicht bedingungslos bekommen haben. Wir lernen, dass wir Bedingungen erfüllen müssen um geliebt zu werden, und es fällt uns schwer uns von dieser Vorstellung frei zu machen. Auch weil wir es selten erkennen. Doch wahre Liebe ist bedingungslos. Sobald Bedingungen daran geknüpft werden, ist es nicht mehr Liebe, sondern ein Handel. Du tust das für mich, dann tue ich das für Dich.“
„Das heißt also, dass mich meine Mutter nie geliebt hat, sondern nur für ihre Zwecke benutzte?“, fragte Maria traurig.
„Wahrscheinlich nicht bewusst. Vielleicht hat sie es auch nie anders gelernt und konnte es nur so weitergeben“, erklärte nun Uwe, „Denn war es nicht so, dass sie wiederum nur geliebt wurde, wenn sie den Vorstellungen ihrer Mutter entsprach, wenn sie das brave, gute, artige, wohlerzogene Mädchen war? Eine Vorstellung, gegen die sie sich niemals aufgelehnt hat und die sie fraglos akzeptierte, bis zur letzten Konsequenz?“
Und in Marias Kopf erstand ein Bild, ein Bild ihrer Mutter, wie sie auf ihrem Sessel saß, wartend, dass ihre Mutter käme ihr zu sagen, dass sie es gut machte. Selbst dann noch, als ihre Marias Großmutter schon lange nicht mehr lebte.
„Es war, als würde sie immer gefallen wollen, als würde sie damit rechnen, dass jeden Moment jemand hereinkäme und ihr zustimmend zunickte, sagte, dass sie es gut machte“, sagte Maria gedankenverloren, „Sie war angewiesen auf diesen Zuspruch, der niemals kam. Nie mehr wieder. Stattdessen haben sich alle abgewandt, weil sie nicht verstanden. Auch ich. Es war der falsche Weg. Jetzt, wenn ich es so vor mir sehe, dann wünschte ich, ich hätte es ihr einfach gesagt. Vielleicht hätte ich sie aus ihrer Lethargie holen können, ihr ermöglicht einen anderen Weg einzuschlagen, aber wahrscheinlich ist es jetzt zu spät. Niemals habe ich sie wirklich gesehen. Ich habe viel zu sehr auf das gehört was sie sagte, und nicht auf das, was sie meinte. So ist es doch meine Schuld, mein Versäumnis.“
„Nein, das ist es nicht“, erklärte Uwe entschieden, „Es geht auch gar nicht um Schuld, sondern um Verständnis. Erst wenn Du sie so siehst wie sie ist, kannst Du auch ihr Handeln verstehen, doch verantwortlich ist sie selbst. Du kannst anders auf sie zugehen, wenn Du verstehst, aber auch die Verantwortung, die Du Dir auflastest für sie oder Dir aufbürden hast lassen, endlich hinter Dir lassen und Dir zugestehen, dass es nicht Deine Aufgabe ist ihr Leben zu leben und sie glücklich zu machen. Du kannst diese Bürde, die nicht Deine ist, endlich ablegen und Dich freier auf sie zubewegen. Du kannst ihr begegnen wie sie ist.“
„Dennoch, es tut weh, es tut so weh, als würde ich etwas verlieren, etwas entzwei schneiden“, sagte Maria leise.
„Natürlich tut es weh. Etwas hinter sich zu lassen, woran man allzu lange festgehalten hat, tut immer weh, doch der Schmerz führt in eine neue Möglichkeit. Erst wenn Du ihn aushältst, kannst Du neu beginnen. Altlasten verstellen Dir die Sicht auf das Jetzt. Wenn Du Dich von ihnen lösen kannst, dann führt es zu etwas Neuem“, erklärte Uwe.
„Wirst Du für mich da sein?“, fragte Maria unsicher.
„Ich werde für Dich da sein“, sagte Uwe entschieden.
„Auch wenn ich schwach und verletzlich bin?“, fragte Maria weiter.
„Gerade wenn Du schwach und verletzlich bist“, antwortete Uwe.
Sachte nahm Uwe Maria in die Arme, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wagte sie es sich einfach anheim zu geben, seinen Armen, seinem Halt, wagte sie es schwach zu sein und verletzlich, ohne Angst zu haben. Langsam verließ sie die Unruhe und die Ruhe zog in ihr Herz ein und in ihre Gedanken. Wenn sie es selbst geschafft haben würde, dann würde sie auf ihre Mutter zu gehen und ihr das erklären können, was sie selbst erst gerade zu begreifen begann. Dann würden sie einen Weg zueinander finden, wenn ihre Mutter das wollte. Wenn nicht, dann hätte Maria zumindest alles versucht und könnte sich mit sich selbst versöhnen und tröstende Worte finden für ihr inneres Kind. Dann würde Frieden herrschen.
Vielleicht war das die eigentliche Botschaft von Weihnachten, dass der Friede damit beginnt, ihn mit sich selbst zu schließen. Und das Webschiffchen webte fort, auch an diesem Abend, dem Abend des dreiundzwanzigsten Advents.