Adventgeschichte: Das gewebte Bild (9): Verantwortung zu üben

Maria fühlte sich angenommen. Schon lange hatte sie nicht mehr an all die Dinge gedacht, die nach wie vor in ihrem Auto lagen. Es würde sich schon ergeben, irgendwann, und dann würde es auch noch passen. Immer mehr Arbeiten nahm sie ihrer Großtante ab. Hatten sie die Verrichtungen im Stall in den ersten Tagen noch gemeinsam erledigt, so sagte Maria immer öfter zu ihrer Großtante, „Ich mach das schon.“ Und dabei hatte sie den Eindruck, dass ihr Magdalena sehr dankbar war. Es war, Maria, als würden die Kräfte ihrer Großtante nachlassen, auch wenn sie sich wie immer zu bewegen schien. Vielleicht, dass es die halbe Minute länger war, die sie sitzen blieb, das kurze Kräfte schöpfen bevor sie sich von einem Ort an den anderen begab. Maria war aufmerksamer geworden und zugewandter. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ihre Großtante nur auf jemanden gewartet hatte, dem sie ihre Tiere, mit denen sie ihr Leben teilte, anvertrauen konnte, dass sie durchhielt bis es so weit war, um unbesorgt gehen zu können, doch mit leisem Schaudern schob Maria diesen Gedanken wieder bei Seite. Mehr noch, sie schalt sich selbst ob solch eines Ansinnens. Ihre Großtante war zwar schon 92 Jahre alt, aber bis jetzt hatte sie alles ohne Probleme gemeistert. Warum sollte das plötzlich anders sein? Doch da lenkte sie ein Geräusch ab.

„Hörst Du das?“, fragte Maria unvermittelt.

„Was denn?“, ertönte eine Gegenfrage aus der Küche, in der ihre Tante gerade Tee aufbrühte.

„Es klingt wie ein Winseln“, meinte Maria, die angestrengt lauschte.

„Das wird wohl Mia oder Mara sein“, entgegnete Magdalena kurz.

„Nein, die beiden liegen schnurrend auf der Ofenbank, und haben keinen Grund zu winseln“, entgegnete Maria kurz, „Außerdem hört sich ihr Jammern ganz anders an.“Erstaunt hörte sie ihre eigenen Worte, erstaunt, weil sie schon so genau zu differenzieren gelernt hatte. Es war in der Nacht schneidend kalt geworden. Der Winter zeigte sich von seiner unerbittlichsten Seite, so dass der Schnee seine Leichtigkeit verloren und zu schweren Brocken gefroren war.

„Ich denke, das kommt von Draußen“, erklärte Maria nachdem sie nochmals genau hingehört hatte.

„Ich glaube zwar nicht, dass sich irgendwer oder irgendwas bei der Kälte hinauswagt, aber Du kannst ja mal nachsehen“, forderte Magdalena, die genau merkte, dass es ihrer Nichte keine Ruhe ließ, während sie selbst sich mit dem heißen Tee zu den Katzen auf die Ofenbank setzte.

„Gut“, sagte Maria und öffnete vorsichtig die Türe. Sofort schnitt ihr die eisige Luft durch die Haut. Ihr Blicke schweifte über die umgebende Landschaft, um erst zuletzt in der Nähe zu halten. Da war nichts weiter als ein schwarzes Knäuel, mitten vor der Türe. Es wirkte wie alte Fetzen, achtlos hingeworfen. Maria ging in die Hocke um sich das undefinierbare Etwas genauer anzusehen. Da erst erkannte sie was es war, und ein kurzer Schrei des Entsetzens entrang sich ihrer Kehle.

„Mein Gott, das lebt ja!“

Wenige Minuten später hatte sie die schwarzen Fellknäuel ins Haus gebracht und vor dem Kamin auf eine Decke gelegt. Die Katzen hatten sich nicht bewegt, außer, dass sie träge beobachteten was vor sich ging, während Maria darüber kniete und versuchte sich ein Bild zu machen. Es handelte sich um eine Hündin, eine pechschwarze Hündin, die offenbar so kraftlos war, dass die Augen nicht mehr öffnete. Sacht legte Maria ihre Hand auf die Seite der Hündin und spürte die Knochen unter dem Fell. Sie schien stark abgemagert zu sein. Dagegen waren die Zitzen ausgezehrt. Der Atem ging nur mehr ganz langsam und flach. Starr blickte Maria die Hündin an. Noch nie hatte sie den Tod so bedrohlich nahe gefühlt.

„Sie hat sich gänzlich verausgabt“, vernahm plötzlich Maria die Stimme ihrer Großtante neben sich, „Eine Hündin gibt alles, auch ihr eigenes Leben, um ihre Welpen zu retten. Ich glaube, die kommt von dem Einsiedler oben am Hügel. Er hat schon öfter Hündinnen ausgesetzt, wenn sie einen Wurf hatten, aber dass er das fertigbringt, mitten im Winter, das hätte ich nicht einmal ihm zugetraut.“

„Wir werden sie doch retten können?“, fragte Maria, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte oder weil sie hören wollte, dass sie unrecht hatte.

„Ich fürchte, wir werden nicht mehr viel tun können“, meinte Magdalena kopfschüttelnd, die spürte wie nahe es ihrer Nichte ging, „Aber ich denke, es wäre in ihrem Sinne, wenn wir uns um ihre Kleinen kümmerten. Den ganzen Weg bis hierher hat sie sie gebracht, einen nach dem anderen, instinktiv jemanden gesucht, der sich um die Welpen kümmert, wenn sie es nicht mehr kann. Sie ist ein kluges Mädchen. Jetzt kann sie ruhig sein. Es ist alles gut.“

Und während die Hündin dalag, immer noch mit geschlossenen Augen, schien wirklich so etwas wie Ruhe einzukehren. Jetzt konnte sie sich ausruhen, loslassen, endlich schlafen. Langsam begannen sich die Kleinen zu rühren. Tapsig suchten sie die Nähe der Mutter. Die Wärme schien sie zu beleben, so dass sie sofort an die Zitzen wollten. Unbeherrscht, ganz nach Welpenart, stießen sie daran, doch da kam nichts mehr. Leise winselnd ließen sie nach ein paar Versuchen ab.

„Sie brauchen was zu fressen“, sagte Maria lapidar, „Die Hündin scheint keine Milch mehr zu haben. Was sollen wir tun?“

„Ich denke, dass unsere Lisa doch bereit sein wird ein wenig von ihrer Milch abzutreten“, meinte Magdalena kurz, um dann hinüber in den Stall zu gehen und die Kuh, die im Sommer ein Kälbchen zur Welt gebracht hatte, zu melken. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück, mit einer vollen Kanne Milch, die sie am Ofen wärmte und in zwei kleine Fläschchen füllte. Diese wenigen Minuten erschienen Maria wie Stunden, als würden genau diese Minuten darüber entscheiden ob die Welpen lebten oder nicht.

„Zwei Fläschchen?“, fragte Maria verdattert, „Aber wie soll das gehen, es sind ja vier Welpen?“

„Und wir sind nur zu zweit“, erklärte Magdalena lächelnd, die sehr dankbar war, dass Maria solche Sorge zeigte und sich der Kleinen annahm. Sie war wieder da, das Mädchen von damals, für die das Leben mehr zählte als alles andere.

„Hier“, sagte Magdalena, und drückte Maria das eine Fläschchen in die Hand, während sie selbst das andere nahm. Vorsichtig nahmen beide einen der Welpen auf ihren Schoß und boten ihnen die Milch aus dem Fläschchen an. Zuerst war es schwierig, aber sobald sie merkten, dass es gut war, was da heraus kam, sogen sie begierig daran, so lange bis sie vor Erschöpfung einschliefen. Dann legten sie die beiden zurück und nahmen sich die anderen beiden vor. Bald schon lagen alle fünf schlafend vor dem Kamin. Maria saß daneben, voller Unruhe und Sorge, als sie plötzlich spürte, wie Magdalena ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter legte, ganz sachte, eine kleine, warme Hand.

„Sie werden es schaffen“, sagte ihre Großtante leise, und es klang überzeugend. Vielleicht auch, weil Maria wollte, dass es überzeugend klang.

„Ich hoffe es so sehr, alle fünf“, entgegnete Maria, die den Blick nicht von ihnen wenden konnte. Still und friedlich schliefen sie, offenbar mit sich und der Welt zufrieden, „Sie denken nicht an morgen oder an eine Altersabsicherung, nur dass sie jetzt einen Platz gefunden haben, wo sie sein können.“

„So ist es“, bestätigte Magdalena, „Doch wir sollten uns jetzt ausruhen. Wir werden unsere Kräfte in den nächsten Tagen noch brauchen.“

„Wahrscheinlich hast Du recht“, meinte Maria, die ihre Erschöpfung jetzt bemerkte, „Darf ich heute hier schlafen? Ich möchte sie nicht alleine lassen.“

„Natürlich“, antwortete Magdalena, und während Maria ihr Lager neben dem der Hunde aufschlug saßen die Katzen immer noch auf dem Kamin und sahen mit mäßigem Interesse zu.

Und als sich Maria niederlegte, da wusste sie, dass sich dieses Leben ihr anvertraut hatte. Sie hatte das Anvertraute angenommen und wollte sich kümmern, so gut sie konnte. Und die Farben, die das Schiffchen in das Webbild des Lebens wob, waren leuchtend hell, wie ein neuer Morgen. Und es war der Abend des neunten Advents.

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Spinnchen

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