Adventgeschischte: Das gewebte Bild (22): Verzeihen

Ein Auto war vorgefahren. Es war ungewöhnlich, denn es verirrte sich kaum jemand hierher. Wohl gab es immer mehr, die sich ab und an aus dem Trubel verabschieden und die Abgeschiedenheit aufsuchen wollten. Es hatte doch eine eigene Ausstrahlung, das Waldviertel, mit seiner Weite und auch Verlassenheit. Natürlich gab es auch Städte, aber auch viele kleine Ortschaften, die nach und nach ausstarben. Es gab keine Arbeit, und damit keine Zukunft. Keine Möglichkeit seine Familie zu ernähren. Keine Aussicht darauf. Vielleicht, dass noch manche die Strapazen auf sich nahmen und pendelten, doch immer mehr wollten das nicht mehr und siedelten sich dort an, wo sie Arbeit fanden. Zurück blieben die Alten. Vielleicht, dass es noch einen Lebensmittelmarkt im Ort gab. Dann hatte man Glück. Viele sperrten zu, weil die Besitzer zu alt waren es weiterzuführen und die Jungen kein Interesse daran hatten es weiterzuführen, weil es zu wenig einbrachte, zu wenig um vom Verdienst leben zu können. Dann holten sich die Alten, die nicht mobil waren, ihre Lebensmittel vom Wirten. Der sprang oftmals ein um die Lücke zu schließen, die die Schließung des Lebensmittelmarktes hinterlassen hatte. Wenn der Wirt in den Großmarkt fuhr, dann nahm er die Sachen mit. Mehl, Zucker, Reis. Sie brauchten nicht mehr viel, die Alten. Die meisten hatten ihren Gemüsegarten hinter dem Haus und verstanden sich noch aufs Einlegen und Konservieren. Vorräte anlegen für den Winter, wenn es nichts zu ernten gab. Doch das Wissen ging nach und nach verloren. Es starb mit ihnen weg. Ein einst selbstverständliches Wissen, mit dem auch ein Stück Unabhängigkeit mitstarb. Irgendwann musste auch der Wirt seine Pforten schließen. Keine Gäste mehr, oder viel zu wenige. Dann gab es nichts mehr im Ort, als alte Menschen, die nun darauf angewiesen waren, dass ihre Verwandten kamen um sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Wenn sie das Glück hatten Verwandte zu haben, die sich kümmerten.

Es war ein Auto vorgefahren. Maria und Uwe widmeten sich der Stallarbeit. Sie nahmen es nur am Rande wahr. Es war nicht wichtig. Sie erwarteten niemanden. Erst als sie den Stall verließen und zum Haus zurückgingen, erkannten sie es. Maria konnte es kaum glauben, doch als sie das Haus betrat, sah sie, dass es wirklich so war.

„Grüß Gott, Maria“, wandte sich die Besitzerin des Wagens direkt an sie, ihre Worte mit einem abschätzigen Blick begleitend, „Wie siehst Du denn aus?“

Marias Mutter saß, kapriziert wie immer, auf der äußersten Ecke der Holzbank, peinlichst bemüht mit so wenig wie möglich in Berührung zu kommen.

„Hallo Mutter“, entgegnete Maria knapp, die alles andere als angetan war von diesem überraschenden Besuch, „Ich sehe so aus, wie man eben aussieht, wenn man Stallarbeit erledigt. Das macht man im Allgemeinen nicht im Kostümchen.“

„Stallarbeit?“, entfuhr es Marias Mutter, wobei sie sich offenbar nicht sonderlich anstrengen musste um diesem Wort einen Beigeschmack des Unanständigen zu verleihen, „Aber das ist doch keine Arbeit für eine gebildete Frau. Solche Arbeit verrichtet nur das niedrige Volk.“

„Stallarbeit ist eine durchaus ehrbare Arbeit“, erklärte Maria wie nebenbei, „Daran gibt es nichts auszusetzen.“

„Natürlich ist sie nicht unanständig“, lenkte Marias Mutter ein, „Aber es ist doch trotzdem nichts für Dich. Wozu habe ich Dich denn so viel lernen lassen, meinst Du? Dass Du dann als Stallknecht endest, dafür ganz bestimmt nicht.“

„Nein, dafür nicht, sondern um einen Herrn Doktor zu heiraten, zumindest einen Doktor, sollte es schon kein Professor werden oder sonst irgendwer ganz Wichtiges oder Repräsentatives“, entgegnete Maria lapidar.

„Ja, und das war doch nur, dass Du eine Zukunft hast, ein gutes Leben und alle Annehmlichkeiten, die einem Spross unserer Familie eigentlich zustehen“, meinte Marias Mutter, die überzeugt davon war, dass ihre Tochter sie nun doch verstand, „Also kann ich davon ausgehen, dass Du hier nur eine Weile Urlaub machst und dann wieder ganz normal weitermachst.“

Marias Mutter war schon im Begriff zu gehen, doch die Antwort ihrer Tochter führte dazu, dass sie sich wieder setzen musste, einer Ohnmacht nahe.

„Nein, ich bin nicht auf Urlaub hier, sondern ich werde hier bleiben und mein Leben hier verbringen“, erklärte Maria sachlich.

„Aber das kannst Du doch nicht machen“, stieß es konvulsivisch aus ihrer Mutter hervor, „Das kannst Du doch mir nicht antun.“

„Liebe Mutter, was ist das, was sich Mütter für ihre Kinder wünschen?“, fragte Maria unvermittelt.

„Dass sie ein gutes Leben haben“, meinte Marias Mutter, doch ihre Antwort wankte.

„Eben, und dass sie glücklich sind. Hier habe ich mein Glück gefunden und ein gutes Leben“, erklärte Maria gelassen.

„Nein, das ist aber nicht richtig. Das kann Dich nicht glücklich machen und es ist auch kein gutes Leben“, erklärte die Mutter erbost, „Du wirst nach Weihnachten diesen Ort wieder verlassen und Dein altes Leben wieder aufnehmen, sonst ....“

„Sonst was?“, fragte Maria, ein klein wenig amüsiert. Hätte sie je auch nur die Hoffnung gehegt, ihre Mutter würde sie verstehen, dann hätte sie enttäuscht sein müssen, aber diese Hoffnung hatte sie nie gehabt, „Schau“, und ihr Ton klang nun sehr weich und versöhnlich, „Jeder hat seine eigene Vorstellung von einem Leben, von dem, wo er sich wohl und zu Hause fühlt, vom Glück. Meines ist hier, und wenn Du das nicht verstehst, dann kann ich das nachvollziehen, aber Du könntest es zumindest respektieren.“

„Natürlich kann jeder eigene Vorstellungen haben, aber das ändert nichts daran, dass meine richtig ist“, sagte Marias Mutter energisch, „Und Du bist mein Kind, ich werde wohl wissen, was gut für Dich ist.“

„Ja, ich bin Dein Kind, und das wird auch für immer so sein. Daran lässt sich nichts ändern, aber ich bin mittlerweile erwachsen und treffe meine eigenen Entscheidungen“, erklärte Maria, „Und diese Entscheidungen hast Du zu respektieren, auch wenn sie Dir nicht gefallen.“

„Ich werde Dich enterben“, stieß Marias Mutter hervor.

„Mach das“, sagte Maria achselzuckend.

„Du bist nicht mehr meine Tochter!“, schrie sie nun, alle Contenance vergessend.

„Das ist zwar sehr traurig“, erklärte Maria ungerührt, „Aber auch daran kann ich nichts ändern, und das ist Deine Entscheidung. Ich werde sie respektieren, so wie ich Dich respektiere, trotz allem, und ich verzeihe Dir, denn ich weiß wie sehr Du vom Nebel verhüllt bist.“

„Aber ich werde es Dir nie verzeihen!“, stieß Marias Mutter noch nach.

„Auch das liegt in Deinem Ermessen“, meinte Maria, „Es ist zwar traurig, aber es ist wie es ist.

Wutentbrannt stürmte Marias Mutter aus dem Haus und brauste davon. Maria sah dem Wagen versonnen nach, auch noch, als er längst nicht mehr zu sehen war.

„Es ist gut, dass Du ihr verzeihst“, meinte Magdalena, die Stille durchbrechend.

„Es ist gut, für mich selbst, denn das Nicht-Verzeihen belastet mich und trübt meine Gedanken, macht mich unfrei“, erklärte Maria, „Verzeihen ist eine Last hinter sich zu lassen und frei und unbelastet weitergehen zu können.“

„Wenn Du verzeihst, dann lass es geschehen und denk nie mehr an das Geschehene, zumindest nicht im Groll, denn dann ist das Verzeihen bloß eine leere Worthülse“, sagte Uwe, „Und vor allem mach den, dem Du verzeihst, nicht zu Deinem Schuldner, denn damit wandelst Du das Verzeihen von einer selbstlosen Tat in eine Leistung, für die sich der andere dankbar erweisen muss. Damit machst Du den anderen klein.“

„Nein, das werde ich nicht, denn es geht nicht um Verdienst, sondern um die Möglichkeit aus einer belasteten Beziehung eine unbelastete zu machen, sie quasi wieder in den Urzustand der Unschuld zurückzuversetzen, als würde man völlig neu anfangen.“

Ein neuer Anfang, ein neues Leben. Vielleicht würde selbst Marias Mutter irgendwann verstehen, doch bis es so weit war, würde das Webschiffchen dem Webbild des Lebens noch etliche Reihen hinzufügen. Und es war der Abend des zweiundzwanzigsten Advents.

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