"Heute sind wir auf dem Friedhof gewesen", erzählst Du, nachdem Du Dich neben mich gesetzt hast, und der Nebel legt sich in sanften Schleiern um die Welt. "Warum wart ihr heute auf dem Friedhof?", frage ich, und blase eine allzu kecke Nebelschwade fort. "Weil Allerheiligen ist, und da geht man auf den Friedhof", antwortest Du. "Und deshalb wart ihr auch dort, nur deshalb?", frage ich weiter. "Vielleicht, aber es ist auch, ich mag Friedhöfe. Es ist so ruhig und besinnlich dort. Einer der letzten Orte auf dieser Welt, an dem es keine Hintergrundbeschallung, keine marktschreierischen Werbeeinschaltungen gibt. Ich denke daran, dass ich auch einmal hier liegen werden, und das beruhigt mich", sagst Du nachdenklich. "Warum beruhigt es Dich?", frage ich erstaunt. "Weil ich sicher sein kann, dass es uns allen so geht, dass jeder von uns einmal hier liegen wird und endlich Ruhe gibt, die, die meinen, dass die Welt sich ohne sie nicht weiterdreht genauso wie die, die niemand vermissen wird.

Ich sehe mir die Gräber an, die namenlosen und die, um die sich schon lange niemand gekümmert hat. Nicht vermisst zu werden - es ist gut zu wissen, dass das Leben weitergeht, einfach so, ob mit mir oder ohne mich", sagst Du sinnend. "Nicht vermisst zu werden ist doch schlimm, ist doch, als hätte ich keine Spuren hinterlassen", sage ich. "Wäre es Dir lieber zu wissen, dass es jemanden gibt, nur einen gibt, der sich grämt, weil Du nicht mehr bist, der in Kummer und Leid verhaftet bleibt? Willst Du das?", fragst Du. "Nein, das möchte ich nicht, natürlich nicht, aber so ganz und gar verschwinden ...", entgegne ich. "Wir gedenken der Toten, einmal im Jahr, besuchen den Friedhof, zumindest einmal im Jahr, doch wie viel kümmern wir uns um die Lebenden.

Wie viel Zeit nehmen wir uns für die Menschen, die jetzt um uns sind und für die wir wichtig sein können, die wir befördern und die wir stützen können, mit denen wir lachen und das Leben genießen können? Wie viel Zeit nehmen wir uns füreinander?", fragst Du. "Aber die Toten, die die uns vorangegangen sind, die haben Anteil an dem was wir sind. Die, die mit uns gingen und jetzt nicht mehr, haben uns gestützt und befördert, haben mit uns gelacht und das Leben genossen. Da ist es doch nur recht und billig, dass wir ihrer gedenken!", entgegne ich. "Tun wir das nicht viel besser, indem wir das, was wir geschenkt bekamen, weitergeben, indem wir im Miteinander sind und uns verbinden? Können wir das nicht jeden Tag tun, indem wir uns entfalten und unsere Gaben und Talente nutzen, uns einander schenken? Tun wir das nicht viel besser, indem wir einfach leben?", fragst Du und suchst meinen Blick. "Dann lass uns leben, lieben, atmen, zusammen sein, lachen, weinen, stützen, verbinden, betören, verführen und berühren", sage ich, Deinem Blick begegnend. Und Du nimmst meine Hand und mich mit, mitten hinein ins Leben.

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Darpan

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