Das Leben an sich ist ein Wert. Eine axiomatische Aussage, sollte es sein. Ein unhintergehbares Apriori. Leben an sich umschließt alles, was „Odem in sich trägt“, wie es so schön poetisch heißt, umfasst Menschen, Tiere und Pflanzen. Als Wert an sich, als Grundlage aller anderen Werte, die daraus abgeleitet sind, ist er prinzipiell unhinterfragbar und unantastbar. Sehr lange blieb die Entstehung des Lebens ein Mirakel und für den Menschen uneinsehbar. So war es lange Zeit dem Heiligen zugeordnet und dessentwegen unantastbar. Mittlerweile wissen wir Bescheid, nicht nur über den Zusammenhang zwischen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Leben, deren gegenseitige Bedingtheit, nicht nur über die Zyklen des Lebens, dessen Entstehung, Werden und Vergehen, sondern auch über die Möglichkeiten Leben zu verändern, sei es nun durch die Beseitigung von endogener Fauna und Flora und das Ersetzen durch wirtschaftsfördernde Arten, aber auch durch den direkten Eingriff auf das Erbgut, deren Folgen wir allerdings nicht im Geringsten vorherzusehen vermögen, weil es sich durch die Weitergabe von veränderter Erbinformation und deren Mutation um Gleichungen mit allzu vielen Variablen handelt.
Wenn nun aber das Leben zwar immer noch nicht vom Menschen geschaffen werden kann, so kann es doch vom Menschen verändert werden. So gesehen kann sich der Mensch als Schöpfer sehen. Doch wenn nun das Leben von ihm in dieser oder jener Weise verändert wird, so ist es letztlich sein Werk, und mit seinem Werk kann man nach Gutdünken verfahren. So bleibt der Wert des Lebens wohl aufrecht, aber nicht mehr in jenem unhintergehbarem Apriori, sondern mit Einschränkungen, denn wenn sich die Schöpfung des Menschen nicht in der Weise entwickelt, in die sie sich entwickeln sollte, würde es doch mehr Schaden als Nutzen stiften, wenn man sie beließe. So wird aus einem Wert an sich eine Frage nach dem Nutzen. Nicht mehr im Sein selbst verankert ist der Grundwert des Lebens, das als Existenz keiner weiteren Erklärung bedarf, sondern im Haben. Wert sein wandelt sich in Wert haben. Hat es einen Wert für die Gesellschaft, wenn Menschen leben dürfen, die an einer schweren Behinderung leiden? Noch brisanter wird die Frage, wenn dieser Mensch einer permanenten Betreuung bedarf.
Steht da nicht ein Leben gegen ein anderes? Muss sich da nicht ein Mensch für den anderen aufopfern? Und wenn dieser Mensch sich nicht aufopferte, könnte er nicht eine Aufgabe erfüllen, die sowohl für ihn selbst als auch für die Gesellschaft erfüllender wäre? Ich will einmal dahingestellt lassen ob es nicht möglich ist, dass sich der Opfernde gar nicht als Opfer sieht, sondern die Aufgabe der Pflege wohl als Bereicherung zu sehen vermag, aber letztlich kommt darin die utilitaristische Einsicht zum Tragen, dass Wert hat was auch Nutzen hat. In Wahrheit geht es also nicht um die Frage ob dieses Leben Wert für die Gesellschaft respektive für sich selbst hat, sondern ob es der Gesellschaft oder sich selbst Nutzen bringt, wobei als Nutzen, entsprechend dem Primat des Ökonomischen, ein ökonomischer, also letztendlich monetärer Nutzen gemeint ist. Und so wie der Ökonom eine Investitionsrechnung für eine Maschine aufstellen kann, so ist dies auch für den Menschen möglich.
Investitionsrechnung gesunder Mensch:
Anschaffungskosten0,--
Investitionen bis zur vollständigen Funktionsfähigkeit220.000,--
Weitere Investitionen für Instandhaltung während der Nutzung40.000,--
Investitionen nach Einstellung der Nutzung200.000,--
Gesamtkosten460.000,--
Nutzen während der Funktionsfähigkeit1,200.000,--
Überschuss740.000,--
Trotz aller Vereinfachung ist es wohl ersichtlich geworden, dass ein Mensch während seiner Funktionsfähigkeit für sich selbst und die Gesellschaft einen respektablen monetären Nutzen zu schaffen vermag. Nun soll dem die Investitionsrechnung für einen behinderten Menschen gegenüber gestellt werden.
Investitionsrechnung behinderter Mensch:
Investitionen vom Beginn bis zum Ende, da keine Funktionsfähigkeit1,500.000,--
Nutzen während der Funktionsfähigkeit0,--
Defizit1.500.000,--
Da der behinderte Mensch niemals in die Phase der Funktionsfähigkeit eintritt, ergibt sich auch kein monetärer Nutzen, so dass alle Investitionen in sein Leben von vornherein abgeschrieben werden müssen. Nicht nur, dass er der Gesellschaft keinen Nutzen bringt, er kostet auch jede Menge, und zwar so viel wie zwei funktionstüchtige Menschen nicht zu erwirtschaften vermögen. So kalt, zynisch und unmenschlich diese Rechnung anmuten mag, so allgegenwärtig ist sie. Konsequent weitergedacht wäre es demnach noch legitim diese Menschen – wie man so schön sagt – von ihrem Leiden zu erlösen oder sie erst gar nicht auf die Welt kommen zu lassen. Zum Segen aller sollen nur mehr gesunde Kinder auf die Welt kommen, also solche, die die besten Aussichten haben den meisten Nutzen zu generieren.
Denkt man diese Möglichkeit konsequent weiter, so könnten in einem weiteren Schritt nicht nur die ausgesiebt werden, die gar nicht funktionieren, sondern auch die, die nicht vollständig funktionieren, im Weiteren die, die nicht gut funktionieren, bis quasi nur mehr eine Elite, die Funktionselite bleibt – und das erinnert mich dann doch sehr unangenehm an jenen Sprachduktus, der die Ausgesiebten wohl als „lebensunwertes Leben“ bezeichnet hätte. Natürlich wird es nicht mehr so genannt. Das Resultat ist das Gleiche.
Wenn wir von Werten sprechen, so sollte allen anderen, ob es sich nun Freiheit oder Gleichheit, Toleranz oder Achtsamkeit, Respekt oder Redlichkeit nennt, der eine unhintergehbare Wert zugrundeliegen, axiomatisch und apriori, der Wert des Lebens an sich, jenseits von Nutzen, sondern um seiner selbst willen, ohne Wenn und Aber.