3. Vergebung
In dichten Flocken fiel der Schnee vom Himmel, so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah, an diesem Morgen. Lilith stand am Fenster und sah hinaus auf die menschenleeren Straßen. Da gab es doch noch etwas, was die Menschen vom Shoppen abhalten konnte, und die wenigen, die sich dennoch hinauswagten, huschten, geduckt, an den Häuserfronten entlang. Sie beeilten sich so rasch wie möglich wieder nach Hause und ins Warme zu kommen.
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„Heute wird wohl niemand kommen“, dachte Lilith noch, als sie eine Gestalt, die den Mantel mit der einen Hand hielt, mit der anderen den Hut. Ein Lächeln huschte über Liliths Gesicht, und noch bevor er die Klinke berührte, öffnete sich die Türe für ihn.
„Guten Morgen, Ruben“, begrüßte sie ihn, „Dass Du Dich bei so einem Wetter überhaupt vor die Türe traust.“
„Guten Morgen, Lilith“, erwiderte er ihren Gruß, sich aus Mantel und Hut schälend. Aufrecht waren seine Schultern nun, aber doch noch immer nicht so, wie sie sein sollten. Da war noch mehr, was ihn belastete, was ihn umtrieb, „Es war nur der gute Tee, den ich heute Morgen vermisste. Nichts weiter.“ Und da war es wieder, dieses jungenhafte Lächeln, das wohl zu verzaubern verstand, wie sie sich lebhaft vorstellen konnte.
„Ach ja, nur der Tee“, gab sie, ebenfalls lächelnd, zurück, „Dann sollst Du auch einen bekommen, wenn Du schon deswegen gekommen bist. Wie fühlst Du Dich heute?“
„Gut, es geht mir gut“, erklärte er hastig, um dann hinzuzusetzen, „Und wie geht es Dir?“
„Grundsätzlich gut, aber es ist etwas, das mich stört“, sagte sie, während sie ihn nicht aus den Augen ließ. Wich er ihrem Blick aus? Versuchte er ihr zu entkommen? Oder bildete sie sich das nur ein?
„Und was ist das, was Dich stört?“, fragte er, ein wenig verunsichert, wie man sich anhört, wenn man eine Frage stellt und nicht genau weiß ob man die Antwort überhaupt hören will.
„Dass Du nicht das sagst, was Du wirklich fühlst, sondern das, was ich hören will“, erklärte Lilith ernst, „Nein, mehr noch, das was Du von Dir preis geben willst.“
„Wie meinst Du das?“, stutzte er.
„Ich glaube nicht, dass es Dir gut geht, sondern dass Du mir diese Antwort gibst, weil Du meinst, dass ich sie erwarte. Vielleicht auch um mich nicht zu belasten“, gab Lilith zurück.
„Grundsätzlich geht es mir gut“, versuchte Ruben nochmals auszuweichen, um sich dann doch selbst einen Ruck zu geben, „Aber da ist etwas, was mich umtreibt und nicht zur Ruhe kommen lässt.“
„Und was ist das?“, fragte Lilith weiter, die sich offenbar auf ihre innere Stimme verlassen konnte.
„Im Laufe eines Lebens passiert viel, zumal wenn man schon einige Jahrzehnte hinter sich hat. Viele schöne Dinge, an die ich gerne zurückdenke, die mich wärmen und zum Lächeln bringen, aber da gibt es auch die anderen, die weniger schönen. Meistens kann ich sie wegschieben, so dass ich sie nicht mehr sehe, aber dann kommen Momente, in denen ich nicht wachsam bin, und dann drängen sie sich auf. Und bleiben. Stur. Nachhaltig“, erklärte er, immer noch ausweichend.
„Kann man diese Dinge auf einen Nenner bringen? Gibt es da eine Gemeinsamkeit?“, hakte Lilith nach.
„Ja, die gibt es, wenn ich es recht bedenke“, erklärte Ruben, und sein Blick wanderte ins Leere, als würde er vor seinem geistigen Auge sein ganzes Leben nochmals aufrollen und Revue passieren lassen, „Immer geht es um Menschen, um Menschen, denen ich weh getan habe. Ich will niemanden weh tun. Aber es passiert.“
„Ja, es passiert“, wiederholte Lilith, während sie nun selbst an ihren Schmerz dachte, der sie verfolgte, seit sie ihr Mann verlassen hatte, und deshalb fuhr sie fort, „Aber wir müssen immer wieder Entscheidungen im Leben treffen. Manche davon betreffen nur uns selbst. Das ist dann auch nicht weiter problematisch, denn dafür müssen wir uns nur vor uns selbst rechtfertigen. Aber dann gibt es die Entscheidungen, die auch andere betreffen. Manche davon sind für alle Beteiligten gut, andere jedoch, die für einen selber gut sind, verletzen andere. Dennoch kann man nicht umhin diese Entscheidung zu treffen. Man muss es tun, für sich selbst. So lange es nicht leichtfertig geschieht. Aber das sieht man schon daran, dass man eben versucht sich in den anderen hineinzuversetzen. Man kommt nicht umhin, dass man Leiden zufügt. Das ist leider so.“
„Ja, damit magst Du wohl recht haben, hilft mir aber nicht wirklich weiter, weil es eben passiert ist und es mir immer bleibt. Ich kann dem nicht entkommen, so wie ich mir nicht entkommen kann“, erklärte Ruben, und schien überzeugt von dem zu sein, was er sagte.
„Das stimmt schon, was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber sag mir zuerst, haben die Menschen, die Du verletzt hast, Dir vergeben?“, forschte Lilith weiter.
„Ich habe mich immer ausgesprochen und sie haben es gesagt“, erklärte Ruben stirnrunzelnd, zweifelnd wohl was diese Fragen nutzen sollten.
„Dann haben Dir die Menschen vergeben, alle, bis auf einen, und der ist der entscheidende“, fuhr Lilith fort.
„Und wer sollte das sein?“, fragte Ruben erstaunt, aber auch ganz offenkundig interessiert.
„Der wichtigste Mensch, der hat Dir noch nicht vergeben“, erwiderte Lilith, „Du selbst.“
„Ich mir selbst, wie soll das gehen?“, hakte er nach.
„Du hörst, dass Dir die anderen vergeben. Sie können Dir aber nur den Teil vergeben, der sie betrifft. Das ist ihre Sache. Damit ist die eine Seite erfüllt“, erklärte Lilith, „Aber da ist auch die andere Seite. Denn Du bist weder von Deiner Entscheidung unberührt geblieben, sonst hättest Du sie erst gar nicht zu treffen brauchen, aber auch nicht von ihrem Leid. Du gibst Dir die Schuld daran, dass sie leiden, was auch grundsätzlich richtig ist, denn wenn Du diese Entscheidung nicht getroffen hättest, dann müssten sie auch nicht leiden. Aber damit müssen sie umgehen lernen, und das haben sie offenbar getan. Der einzige, der sich nicht vergeben hat, bist Du selbst, und deshalb trägst Du das mit Dir herum. Du musst Dir selbst vergeben um loslassen zu können. Du musst Dir selbst vergeben um frei zu sein.“
„Und wie geht das, mir selbst zu vergeben?“, fragte Ruben weiter.
„So wie Du anderen vergibst. Du hältst Dir alles vor Augen was unausweichlich zu Deiner Entscheidung geführt hat, und wenn Du dann sicher gehen kannst, dass Du alles getan hast, was richtig war, nach Deinem damaligen Wissen und Gutheißen, dann kannst Du sagen, ich vergebe mir, dass ich Dich verletzt habe. Weil ich nicht anders konnte“, erklärte Lilith sanft, und blickte nun stetiger werdende Augen. Sie wichen ihrem Blick nicht mehr aus.
„Und das ist alles?“, merkte Ruben noch ungläubig an.
„Ja, das ist alles“, stimmte sie zu, „Aber wenn es so einfach wäre, wie Du es jetzt darstellst, warum hast Du es dann nicht schon längst getan?“
„Ich vergebe mir“, sagte er mit leiser Stimme, und es klang echt.
Und an diesem Abend fand sich eine kleine Statue in der Auslage des leeren Geschäftes, die in der Mitte zerbrochen, aber wieder zusammengeklebt worden war. Man sah es nur mehr, wenn man ganz nahe davorstand. Die Verletzung bleibt, eine sachte Erinnerung, aber die Heilung ist vollzogen, indem man sich selbst Vergebung zukommen lässt.