Ich fand sie, in jener Nacht, unter der Weide. Verträumt und melancholisch sah sie zu den Ästen empor.
„Sie haben ihn ermordet, weil er im Weg war. So unendlich lange Zeit durfte er unbehelligt wachsen, bis sie meinten, dass kommerzielle Interessen Prioritäten hätten vor dem Leben, dem der Kommerz doch dienen sollte. Tatsächlich ist es jedoch umgekehrt. Da haben sie ihn ermordet, einfach hingeschlachtet. Jahrzehnte des Wachsens, hingemetzelt in wenigen Minuten“, sagte sie, und ich war mir nicht sicher ob sie wirklich zu mir sprach. Vielmehr erschien es so, als würde sie es erzählen, weil zufällig jemand da war, die zuhörte.
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„Wen haben sie ermordet?“, fragte ich entsprechend. Nun endlich wandte sie den Blick von den Ästen ab und mir zu.
„Die Linde“, antwortete sie knapp.
„Ich möchte ja nicht herzlos wirken, aber es werden wohl Tag für Tag tausende Bäume hingeschlachtet. Warum betrifft Dich der Tod dieses Baumes so sehr?“, fragte ich weiter.
„Weil meine Tochter niemals darunter wird sitzen können“, antwortete sie kryptisch.
„Dann wird sie wohl unter einem anderen Baum sitzen können“, entgegnete ich völlig unbedarft.
„Am Waldrand und gleichzeitig am Rand unseres Ortes, stand eben jene alte Linde. Es geschah im Jahre 1914, da trafen sich hier, in der Abenddämmerung, ein junger Mann und eine junge Frau. Tatsächlich konnte sich die junge Frau dies nur gestatten, weil sie voneinander Abschied nehmen mussten. Er hatte den Einberufungsbefehl bekommen. Sie waren wohl der Meinung, dass dieser Krieg nicht lange währen könne, meinten, dass sie sich schon sehr bald wiedersehen würde, so dass sie sich einander versprachen, dort unter der alten Linde. Und es war wohl eben jenes Versprechen, das ihnen die Kraft schenkte diese schweren Jahre zu überdauern, er an der Front und sie zu Hause. Jeden Tag ging sie an diesen Baum vorbei, und da war er da für sie, bis er wiederkam, vier Jahre später. Sie heirateten und hatten vier Kinder miteinander, und egal was passierte, der Baum war da, zum Trost, zur Aufmunterung. Dieses Paar waren meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater. Und jedes Mal, wenn sich der Tag jährte, an dem sie sich dieses Versprechen gegeben hatten, trafen sie sich unter diesem Baum. Sie wurden nicht müde, diese, ihre Geschichte zu erzählen. Die langen, harten Kriegsjahre waren längst vergessen, doch dieser eine Abend, ja, diese eine Stunde hatte sich unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Niemals wieder waren sie für längere Zeit getrennt, so als hätten sie ihren Anteil mit den Kriegsjahren bereits gegeben, doch sie hatten sich geirrt. 1940 erhielt mein Urgroßvater wiederum einen Einberufungsbefehl und ebenso wie beim ersten, nahmen die Eheleute unter jener Linde voneinander Abschied. 1944, nur vier Jahre später also, saßen wiederum ein junger Mann und eine junge Frau unter dieser Linde“, erzählte sie.
„Deine Großmutter und Dein Großvater, nehme ich an“, unterbrach ich sie.
„Ja, meine Großmutter und mein Großvater, und wieder war es ein Abschied – der nächste Krieg, die nächste Einberufung. Kurz zuvor erst hatten sie geheiratet, entgegen allem Widerstand, denn schließlich hätten sie ja bis nach dem Krieg warten können. Wollte sie denn unbedingt eine Soldatenwitwe werden, hatte sie sich fragen lassen müssen. Doch die junge Liebe hat keinen Sinn für den Tod. Vielleicht war es ihnen auch darum gegangen gerade in dieser unseligen Zeit zu heiraten, ein Zeichen zu setzen, dass selbst inmitten der größten Zerstörung noch ein Anfang möglich ist. Und dann war er tatsächlich gekommen, der Einberufungsbefehl. Während sie Abschied nahmen, da unter der Linde, trug sie bereits sein Kind unter ihrem Herzen. Viele Jahre sollte sie alleine sein, während er im Feld war und in Gefangenschaft geriet. Viele Jahre, in denen sie keine Nachricht von ihm erhielt. Doch jedes Mal, wenn die Last zu schwer, zu drückend wurde, nahm sie ihre Tochter an der Hand und nahm sie mit hierher, an diesen Platz unter der Linde, wo sie dereinst Abschied nehmen musste. Hier konnte sie ihrer Tochter von ihrem Vater erzählen, und es geschah an einem jener schweren Tage, als sie wieder einmal unter der Linde saßen, als ein ausgemergelter Mann in einem zerschlissenem Anzug auf sie zukam. Furcht überfiel das kleine Mädchen, doch die Mutter schien es nicht zu bemerken.
Sie hatte nur Augen für diesen Mann. Und so wie sich vor Jahren unter der Linde verabschiedet hatten, so fanden sie an diesem Ort wieder zueinander. Viele Jahre später saß abermals eine junge Frau unter diesem Baum. Auch sie wartete auf ihren Liebsten. Kein Einberufungsbefehl und kein Krieg störte ihre Idylle. Ihre Liebe blieb ungestört, doch es war die große Zeit des Aufbruchs, in der alles möglich schien, so lange frau nur hart genug arbeitete, und obwohl es keinen Krieg, keine Zerstörung mehr gab, dies sie zu trennen vermochte, so waren sie es selbst, die es vermochten sich voneinander fernzuhalten. Und so war es auch nicht die Mutter, sondern die Großmutter, die mich an der Hand nahm und an jenen zauberhaften Ort führte. Sie war es auch, die mir all die Geschichten erzählte, all diese Begebenheiten, deren Gemeinsamkeit die alte Linde war, gleich einem Knoten, in dem alle Fäden verbunden waren, meine Großmutter, bei der ich die meiste Zeit verwahrt wurde. So erlebte ich das Erblühen, die sommerliche Pracht, das langsame Welken und die Winterruhe der Linde, viele, viele Jahre hindurch. Und eines Tages traf auch ich mit meinem Liebsten hier, unter der Linde. So lange ich denken kann schenkte sie mir Trost und Zuversicht, Heiterkeit und Freude, und jetzt, da meine Tochter so weit wäre fortzusetzen, jetzt haben sie sie gemordet, achtlos hingemordet um des schnöden Kommerzes willen“, erzählte sie, und ich verstand ihre Trauer.
„Aber vielleicht war es auch ein Zeichen einen neuen Ort zu finden, für Deine Tochter, ein Zeichen, dass Du lernen solltest loszulassen. Deine Geschichte ist nicht die ihre, so wie Dein Leben nicht das ihre ist“, versuchte ich eine Erklärung, während sich ihr Blick wieder in den Ästen der Weide verlor.