Kinder wachsen nicht im luftleeren Raum auf, sondern sind eingebettet in eine bestehende Kultur und Tradition. Das ist einer der vielen Rucksäcke, die wir umgeschnallt bekommen. Aber es ist auch nicht nur ein Rucksack, sondern etwas, das uns erdet und in eine Gemeinschaft einfügt. So wuchs ich in einem traditionell katholisch, konservativen Milieu auf.
„Später kann sich das Kind selbst entscheiden“, heißt es dann, und damit lassen wir es gut sein.
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Später kann sich das Kind selbst entscheiden, aber auch nur dann, wenn es die Möglichkeit hat eben jene Werte zu hinterfragen. Das habe ich ab einem gewissen Alter gemacht. Und dabei eines gelernt: Wer die eigenen Werte, Traditionen und Gebräuche hinterfragt begeht so etwas wie einen tätlichen Angriff. Und das ist das eigentliche Problem. Hinterfragt darf letztlich nicht werden, weil der Befragte sich einerseits selbst in Frage gestellt fühlt. Und bevor man über das eigene Tun und Denken reflektiert, bleibt man lieber in der Komfortzone des Bisherigen. Andererseits wird sich der Angesprochene zumeist dessen bewusst, dass er selbst keine Antworten hat, weil er all das woran er glaubt und wonach er lebt, selbst von seinen Eltern übernommen hat. Da lassen wir lieber die Scheuklappen auf. Aber damit wird die Selbstentscheidung ad absurdum geführt.
„Später kann sich das Kind selbst entscheiden“, heißt es, und ist gelogen. Denn das würde voraussetzen, dass die Menschen, die sein Umfeld prägen, einerseits in dem, was sie selbst glauben, fest verwurzelt sind und Antworten haben. Die Fragen zu negieren ist eine Missachtung des ernsthaft Fragenden, der wissen will. Nun, vielleicht entscheidet sich das Kind, gerade durch ein integres Beispiel, dafür, auch diesen Weg einzuschlagen und das Übernommene für sich anzunehmen. Es bedeutet aber auch, dass es sich anders entscheiden kann. Diese Entscheidung anzuerkennen ist die einzige Möglichkeit, wenn ich den anderen ernst nehme. Doch zumeist ist diese Entscheidung begleitet von sozialen Sanktionen. Und wer ist wirklich so frei, dass er auf sein bisheriges Umfeld, die Gemeinschaft pfeift?
„Du kannst machen was Du willst, so lange Du es so machst wie es sich gehört“, ist der Tenor. Wie es sich gehört? Das bedeutet, wenn ich es recht verstanden habe, auf die Art und Weise, wie man es immer schon gemacht hat. Die Verantwortung für das Tun wird an eine namenlose Gestalt abgeschoben, die einem scheinbar einen unsichtbaren Befehl erteilt.
„Später kann sich das Kind selbst entscheiden“, das ist möglich. Dort, wo ich mein Kind mitnehme in das, was für mich wichtig und von Bedeutung ist, aber auch zur Verfügung stehe, wenn es genau das hinterfragt. Es gilt Antworten zu haben. Nicht nur für das Kind, sondern auch für mich selbst. Wenn ich keine adäquaten Antworten habe, dann muss ich mich selbst fragen warum ich glaube was ich glaube oder tue was ich tue. Wenn ich entsprechende Antworten habe, dann gelten diese für mich. Kann diese das Kind für sich nicht anerkennen und wählt dennoch einen anderen Weg, so ändert dies nichts an der Person, der ich nahestehe. Liebe bedeutet doch angeblich, den anderen so zu nehmen wie er ist. So gründet die Möglichkeit wahrer Entscheidungsfreiheit in der voraussetzungslosen Liebe und Achtung des anderen, zumal, wenn es sich um Menschen handelt, die in der Entwicklung stehen. Dann, und nur dann, kann ich guten Gewissens sagen: „Später kann sich mein Kind selbst entscheiden.“