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Sophie ging den Damm entlang. Kurz blieb sie stehen. Tief ging es da hinunter, sehr tief. Ihr schauderte. Mechanisch trat sie einen Schritt zurück.

„Keine gute Idee“, sagte sie zu sich selbst und ging weiter, den Waldrand entlang, als sie plötzlich eine Gestalt wahrnahm, die unter einem der größten Bäume saß.

„Was machst Du denn hier?“, fragte sie, die Gestalt musternd. Normalerweise war sie nicht so draufgängerisch. Eigentlich wunderte sie sich über sich selbst. Konnte jemand, der um vier Uhr in der Früh an dieser Stelle war noch ganz normal sein. Vielleicht war es auch ein gefährlicher Verbrecher. Obwohl, sie war ja schließlich auch da und keine gefährliche Verbrecherin. Nicht ganz normal, gut, das würden wohl manche abnicken, die sie kannten, aber auf eine eher verschrobene, liebenswürdige Art.

„Ich bringe wirklich nichts auf die Reihe“, antwortete die Gestalt unter dem Baum unvermittelt. Groß und breit gebaut war der Bursche. Das war sogar im Dunkeln zu erkennen. Er wirkte körperlich stark, aber er schien trotzdem klein und hilflos zu sein, in diesem Moment.

„Nicht einmal umbringen kann ich mich. Echt, ein Versager auf ganzer Linie“, fuhr er ungefragt fort.

„Wie hast Du es denn machen wollen?“, fragte Sophie, als wäre sie Expertin im Bezug auf Suizid, „Und vor allem, warum?“

„Weil alles sinnlos ist was ich mache“, antwortete er prompt, „So lange ich denken kann setzte ich mich für die Seepferdchen ein. Seit ich zum ersten Mal sah, wie die kleinen Babys aus dem Bauch des Papas hüpfen. So war ich mit dabei, auf einer Züchtungsstation und konnte sehen, dass der Bestand größer wurde. Aber dann, eines Tages, da dachte ich, dass es noch mehr Tiere gibt, noch mehr Leid. Kühe, die verzweifelt nach ihren Kälbchen schreien, weil sie ihnen sofort weggenommen werden. Schweine, eingepfercht, ohne Narkose kastriert. Hühner in engen, grauenhaften Käfigen. Tiere, die bei lebendigem Leib gehäutet werden. Haie ohne Flossen. Aber auch Kinder mit abgefressenem Gesicht und aufgeblähten Bäuchen. Kindersoldaten. Kinderprostitution. Kinderarbeit. Und genau so viele hungernde und missbrauchte Erwachsene. Und da dachte ich an nichts als an Seepferdchen. Und selbst wenn es irgendwann gelänge die Seepferdchen zu retten, dann ist es doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Alles sinnlos. Warum also mich länger quälen? Ich beschloss also meinem Leben ein Ende zu setzen. Aufhängen gefiel mir. Das geht angeblich schnell und relativ schmerzlos, wenn man es richtig macht. Deshalb besorgte ich mir einen Hanfstrick, von wegen der Umwelt. Und ließ mir auch gleich zeigen wie der Knoten geht. Aber er funktioniert nicht, das dumme Ding zieht sich einfach nicht zusammen.“

„Zeig mal her“, sagte Sophie und nahm ihm den Strick aus der Hand. Eingehend besah sie sich den Knoten und fand den Fehler, „Das kann so auch nicht funktionieren.“

„Kennst Du Dich mit so etwas aus?“, gab ihr Gesprächspartner erfreut zurück.

„Ja, klar, mein Vater war passionierter Segler“, antwortete Sophie prompt, „Aber ich glaube, so einfach ist das mit dem Aufhängen nicht. Wenn man nicht richtig springt, dann erstickt man qualvoll.“

„Was schlägst Du dann vor?“, fragte er nach.

„Ich wollte es mit Tabletten probieren, weißt Du, so einfach langsam einschlafen“, erzählte Sophie pragmatisch, „Aber finde mal Schmerztabletten, die nicht von Bayer oder Novartis sind und garantiert tierversuchsfrei.“

„Ja, das ist schwierig, kann ich mir vorstellen“, erwiderte er nachdenklich, „Ich heiße übrigens Raphael.“

„Mein Name ist Sophie“, sagte Sophie, „Mit ph.“

„So wie bei mir“, erklärte Raphael, und zum ersten Mal sah er sie lächeln. Es war ein bezauberndes Lächeln. Eigentlich wirkte sie im ganzen bezaubernd, so sanft und zierlich, und gleichzeitig so stark und lebensgewandt. Er sah wie sie zitterte, trotz der dicken Jacke, die sie trug. Gerne hätte er den Arm um ihre Schultern gelegt. Ganz ohne Hintergedanken, oder zumindest beinahe. Er wollte sie nur wärmen, schützen. Doch dann befand er, dass sie sich noch nicht gut genug kannten für solch eine Geste. Gerade mal ein paar Minuten. Wann eigentlich beginnt eine Freundschaft?

„Jedenfalls habe ich es auch noch nicht geschafft. Sterben ist gar nicht so leicht“, erklärte Sophie.

„Weißt Du was, holen wir uns einen Kaffee?“, schlug er unvermittelt vor.

„Ja klar, ich weiß wo es die beste Sojalatte gibt“, erklärte sie und nahm ihn ganz spontan an der Hand um ihn hochzuziehen. Sobald er stand ließ sie seine Hand wieder los. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie seine Hand noch länger so halten können. Heute war eindeutig kein guter Tag zum Sterben.

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