Maria war verzweifelt. Und der Grund hieß Neuronale Ceroid Lipofuszinose, kurz Spätinfantile NCL oder umgangssprachlich auch bloß als Kinderdemenz bezeichnet. Diagnostiziert wurde die Krankheit als ihre Tochter Lea drei Jahre alt war, als sie plötzlich hinfiel, als hätte sie vergessen wie man geht oder bloß steht. Ihr Gehirn hatte es tatsächlich vergessen. Nach und nach entwickelte sie sich zurück, bis zu einem bewegungs-, sprech- und sehunfähigen Wesen. Bald schon könnte es so weit sein, dass sie auch das Atmen vergäße. Dann würde Maria ihre Tochter für immer verlieren. Sie konnte nichts weiter tun, als ihr beim Sterben zuzusehen. Und sie war noch nicht einmal zwölf Jahre alt.
„Macht doch einfach ein Neues“, erklärte ihr ihre Großtante, als wenn man ein Kind durch ein anderes ersetzen könnte, einfach so, wie ein Auto, das nicht mehr funktioniert und verschrottet wird.
„Das ist die Strafe für Eure Sünden“, war das einzige, was Marias Großmutter einfiel, „Was hattest Du Dir denn erwartet, wenn Du ein uneheliches Balg in die Welt setzt, noch dazu von einem verheirateten Mann.“
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„Du meinst also, Gott straft mich, indem Er mir das Wichtigste in meinem Leben nimmt?“, wollte sich Maria vergewissern.
„Natürlich, es soll Dich ja treffen“, bestätigte die Großmutter achselzuckend, und rupfte das Huhn weiter, das sie vor kurzem erst von seinem Kopf befreit hatte.
„Ein Mensch als Instrument um zu strafen“, dachte Maria, die sich schon lange vom Glauben abgewandt hatte. Also eigentlich hatte sie sich nicht abgewandt, sondern hatte die nette Vorstellung ihrer Kindheit behalten, vom süßen Christkind und den Schokoladehäschen an Ostern. Es spielte auch keine Rolle in ihrem Leben. Sie war sehr gut ohne zurechtgekommen, und zwar sogar recht erfolgreich. Und als Lea auf die Welt kam – zugegeben ein Kind, das während der Affäre mit ihrem Chef gezeugt wurde, aber das war ihre Entscheidung gewesen, nicht Leas – da schien ihr Leben perfekt. Maria war glücklich, vollkommen glücklich, bis zu jenem Tag, an dem sie die schreckliche Wahrheit erfuhr.
Jetzt saß sie, erschöpft und völlig ausgelaugt auf einer Bank im Park vor dem Krankenhaus, als sich ein älterer Herr zu ihr setzte. Sie hatte ihn schon öfter gesehen, doch mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln hatten sie bis jetzt nicht gewechselt.
„Sie sehen müde aus“, eröffnete er das Gespräch ohne Umschweife.
„Weil ich müde bin“, erklärte Maria knapp.
„Möchten Sie darüber reden?“, fragte er, mit diesem sanften Ton, der ihr Zuversicht und Vertrauen schenkte. Vielleicht war es das, was sie dazu bewog weiterzureden, oder einfach die Tatsache, dass sie niemanden hatte, mit dem sie darüber reden konnte. Von Tod und Krankheit will niemand was hören.
„Meine Tochter wird sterben“, sagte Maria kurz.
„Nun, dann ist es Ausdruck ihrer schlechten Gedanken. Sie hatte wohl so viele, dass sich diese kumulierten und die Krankheit zum Tode auslöste“, erklärte er, als wäre es eine göttliche Offenbarung.
„Mit zwölf Jahren?“, fragte Maria fassungslos über so viel, so viel ...
„Das kann früh passieren, aber immer sind die falschen Gedanken schuld“, blieb er ruhig bei seiner Meinung, ohne zu bemerken wie tief er Maria verletzte.
„Das heißt alle bösen Menschen sterben früh?“, fragte Maria nach, sich zu vergewissern, ob sie richtig verstanden hätte.
„Ganz gewiss sogar“, zeigte er sich überzeugt.
„Gadaffi war 69 Jahre als er starb.
Suhartu 87
Pol Pot 73
Mao Zedong 83
Kim Il-Sung 82
Stalin 75
Idi Amin 78
Franco 83
Pinochet 91
Mugabeist 91 Jahre alt.
Than Shwe 82
Ahmad al-Bashir 71
Afewerki 69
Karimov 77
All diese Männer waren oder sind durchdrungen von Mord und Unterdrückung und bösen Gedanken. Und alle erreichten ein hohes Alter“, meinte Maria und sah ihm direkt in die Augen, „Wie viel böse Gedanken hatte eine Zwölfjährige?“
„Offenbar noch mehr, denn was gewiss ist, muss gewiss bleiben“, blieb der alte Mann unbeeindruckt.
Wie gut ist es doch sich so sicher zu sein.