So ich mach mich mal unbeliebt, aber mal von Anfang an.
Ich muss zugeben, als ich das Bild sah, mit dem ertrunkenen Jungen am Strand, und von der Tragödie hörte, war ich sprachlos. Es hat mich sehr getroffen. Vor einiger Zeit war ich ein kleiner Junge der von seiner Mutter an die Hand genommen wurde, durch ein Kriegsgebiet gezogen wurde und dann mit einem Bus nach Österreich kam.
Ich verstehe auch die Betroffenheit in den (sozialen) Medien darüber und ich verstehe auch, warum man sich zu Aussagen wie "Wir sind schuld!" hinreißen lässt. Ich hätte ähnliches gepostet und von mir gegeben, wäre ich kein Skeptiker.
Was meine ich damit ? Ich beziehe meine Informationen immer aus so vielen Quellen wie möglich, um mich nicht vereinnahmen zu lassen.
Und je mehr ich über diese Geschichte erfuhr, ...
Nein "wir" sind nicht schuld. Mal ganz davon abgesehen wer dieses "wir" überhaupt ist.
Die Familie dieses Jungen lebte schon seit 3 Jahren in der Türkei!
3 JAHRE
Seit 3 Jahren lebten sie in Frieden und Sicherheit (wenn auch Armut) in der Türkei.
Kanada ist auch nicht in der Schuld, nur weil sie den Asylantrag abgelehnt haben. Der Antrag wurde bearbeitet und dann abgelehnt, es ging alles rechtstaatlich zu.
Ein Kind ist tot. Das macht jeden von uns betroffen und sollte es auch, wer beim Anblick einer Kinderleiche nichts empfindet, der sollte mal darüber nachdenken. Aber es sterben pausenlos Kinder.
Es klingt morbide, aber: die durschnittliche Lesegeschwindigkeit eines Erwachsenen liegt bei 250 Wörtern pro Minute. Der Punkt im letzten Satz hat 257 Wörter markiert, rein statistisch gesehen sind vom Anfang dieses Blogs bis zum vorherigen Punkt 4 Kinder gestorben. Statistiken und Bilder sind zwei verschiedene Dinge. Niemand ist sich richtig bewusst, dass der Tod so allgegenwärtig ist.
Ich verstehe die Betroffenheit der Menschen, aber nachdem ich die Hintergrundgeschichte jetzt kenne, muss ich doch klar Position beziehen.
Wir sind nicht Schuld das dieser Junge ertrunken ist. Jeder der jetzt versucht diese Foto zu instrumentalisieren, nützt unseren Instinkt Kinder zu schützen aus.
Dieser Junge starb, weil sein Vater neue Zähne wollte. Er konnte sich die Operation in der Türkei nicht leisten und wollte deswegen nach Europa auswandern, um hier gratis neue Zähne zu bekommen.
Nein das ist keine Lügengeschichte. Es ist die Wahrheit.
Seine 2 Kinder und seine Frau starben deswegen.
Seine Schwester sendete ihm die 4000€ für die Schlepper.
Nein wir sind nicht Schuld. Wenn jemand Schuld ist, dann sind es diejenigen die falsche Hoffnungen verbreiten.
Bis auf Schweden ist mir auch nicht bekannt, dass ein anderes europäisches Land gratis zahnärztliche Versorgung über Akutfälle hinaus bereitstellt.
Nochmals, sie lebten 3 Jahre in Sicherheit und Frieden und der Grund der neuen Ausreise waren neue Zähne. Wegen Zähnen sind 2 Kinder und eine Frau gestorben. Der Vater ist jetzt am Boden zerstört und wird mit den Leichen nach Kobane zurückkehren, sie dort bestatten und dort verbleiben, weil er mit seiner Familie begraben werden möchte. Ich will nichtmal versuchen mir vorzustellen, was in ihm jetzt vorgeht.
Aber ich finde diese Scheinheiligkeit und Berufsbetroffenheit, vor allem in der Politik, mittlerweile sehr fehl am Platz.
"Ja wir müssen jetzt mehr tun, dieser arme Junge ist gestorben, weil wir nichts getan haben."
Es gäbe hunderte anderer Flüchtlinge die ertrunken sind, bei denen eine Aussage "Wir sind schuld" richtiger wäre. Aber hier ist sie fehl am Platz.
Und selbst da sind nicht "wir" schuld. Wer ist dieses "wir" ?
Bin ich mitschuld ?
Was hätte ich tun können, damit der Junge nicht ertrinkt ? Nichts.
Könnte ich mehr für Flüchtlinge tun ? Wahrscheinlich. Ich bin ein gemütlicher und fauler Mensch. Bis auf Sach- und Geldspenden an karitative Organisationen habe ich nichts getan. Ich habe Bekannte die bei "Deutschkurse für Traiskirchen" mitmachen, aber bin selber zu faul mitzugehen, vielleicht sollte ich das mal ändern, aber würde das irgendeinen Flüchtling davor erretten zu ertrinken ? Nein.
Ich bin auch körperlich nicht fit genug um mich der YPG oder PKK anzuschließen und aktiv gegen den IS zu kämpfen. Das ist etwas, das man machen kann. Die Gegner des IS unterstützen, denn der ist zurzeit die Wurzel allen Übels.
Es gibt viele Probleme um die wir uns kümmern müssen. Aber es geht nicht an, Menschen persönlich betroffen zu machen, eine Mitschuld zu suggerieren um sie damit für Politik zu vereinnahmen.
Politik sollte logisch gemacht werden und nicht emotional. Ich verstehe die Aufregung, wenn Menschen sterben, aber Politiker sich erst zusammen setzen.
Aber Kurzschlussreaktionen machen Sachen nur noch schlimmer. Siehe Deutschland und "wir setzen Dublin-Verfahren für Syrer aus" und plötzlich wollen alle nach Deutschland und jeder ist Syrer der seine Papiere verloren hat.
Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Intentionen.
Gutgemeinte Kurzschlüsse können nicht die Lösung sein für Tragödien. Pathos und Affekt können nicht Logik und Vernunft ersetzen, so tragisch es ist, dass ein kleiner Junge gestorben ist, so wichtig ist es, seinen Tod nicht zu instrumentalisieren und zu missbrauchen. Persönliche Betroffenheit ja. Entsetzen über dumme Kommentare wie "nur noch 799999" ja.
Aber. An jedem Bootsunglück sind nur 2 Gruppen schuld. Schlepper die verzweifelte Flüchtlinge ausnutzen und sich eine goldene Nase verdienen wollen und NGOs die falsche Hoffnungen an naive Flüchtlinge weitergeben.
"Aber wenn es legale Einreisemöglichkeiten gäbe, würde sich das Schlepperproblem lösen"
In Serbien können Flüchtlinge legal und ohne Probleme mit Bus und Zug durch das Land reisen um nach Ungarn zu gelangen. Schlepper streuen gezielt Gerüchte um dies zu unterbinden und zu unterminieren, damit Flüchtlinge überteuerte "Taxis" nehmen.
Selbst wenn wir Möglichkeiten in Lybien und Syrien schaffen um dort Asyl und eine Reise nach Europa zu ermöglichen, wird es Boote geben die kentern, weil Schlepper Informationen verbreiten werden wie "wenn ihr euch dort anmeldet kommt ihr nach Ungarn oder Polen und nicht nach Deutschland".
Und Sache ist die: Es können nicht alle nach Deutschland und Schweden. Aber solange alle nach Deutschland und Schweden wollen, werden Boote kentern.
Worauf will ich eigentlich mit diesem Blog hinaus ?
Ich denke es reicht mit der Scheinheiligkeit und Berufsbetroffenheit. Jeder von uns sollte den Flüchtlingen soweit helfen wie er kann / will.
Wir sollten aufhören den Flüchtlingen zu neiden oder gegen sie zu hetzen, das muss echt nicht sein und ich bin froh, dass es in Österreich nicht annähernd so viel Gewalt gegen Flüchtlinge gibt wie in Deutschland.
Die Politiker sollten anfangen an Lösungen zu arbeiten, anstatt nur betroffen zu sein und auf Wählerfang zu gehen.
Aber wir sollten auch endlich aufhören, diese Diskussion emotional zu führen. Im Jargon der Internetmedien gibt es den sogenannten "Clickbait". Clickbait meint einen Link so zu gestalten, dass man draufklickt. SYRIAN BOY DROWNED SHOCKING PHOTO bringt einen dazu auf einen Link zu klicken. Der Clickbait ist nichts anderes als die moderne Schlagzeile.
Aber nach und nach gestalten wir unsere Argumente so. Es geht nicht darum, logisch schlüssige Argumente zu haben, es geht nichtmal mehr darum halbwegs gute Argumente zu haben. Es geht nur noch darum, dass eigene Argument so schockierend und so emotional zu gestalten, dass man "ja stimmt" sagen muss oder sich Feinde zu machen. Und Bilder von toten Kindern sind das Totschlagargument schlechthin.
Nein wir sind nicht Schuld, du nicht, ich nicht und selbst die Politiker nur bedingt. Schuld sind nur die Schlepper, einige NGOs und ja zum Teil die Flüchtlinge selber.
Jemand der in Lybien um Kopf und Kragen fürchtet, weil das Land zersplittert ist zwischen Warlords, Islamisten und Milizen und der deswegen so schnell wie möglich auf ein Boot will, den versteh ich.
Jemand der in der Türkei sicher und friedlich lebt, aber trotzdem in einen wackeligen Kahn steigt, den versteh ich nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass es eine Landverbindung zwischen der Türkei und der Europäischen Union gibt, dort ertrinkt man nicht. Und man landet auch nicht auf Kos.