Offensichtlich fällt es vielen schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Es gibt viele kluge Texte, in denen über die „Bäume“ geschrieben wird, aber kaum welche, die das große Ganze, den „Wald“, behandeln. Die Ursachen für die politischen und gesellschaftlichen Unruhen findet man nur mit Blick auf das Ganze. Damit wird auch deutlich, dass wir es mit dem drohenden Zerfall der westlichen Zivilisation und mit einer Zeitenwende zu tun haben, die man nicht groß genug denken kann.
Es ist eigentlich nicht neu: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Nur hat man das im Westen und vor allem in Deutschland als der am weitesten entwickelten Gesellschaft lange geglaubt. Es funktionierte ja auch. Mehr „Brot“, mehr Wachstum, mehr Freizeit, mehr Konsum, mehr, mehr optimize to the max auf allen Ebenen, Materialismus in Höchstform, Hyperindividualisierung, Globalisierung, mehr von allem und das noch schneller. Technologische Sprünge, die einem den Atem verschlagen haben, ganz vorne die Computer, das Internet und der Mobilfunk.
Die NZZ schrieb heute: „Der wie mit Steroiden gedopte Austausch von Waren, Menschen und Ideen hat die Wähler erschöpft. Nun wehren sie sich.“ Der Autor geht noch weiter: Für Deutschland heisst dies, dass die neue Gereiztheit vermutlich auch ohne die Flüchtlingswelle 2015 eingetreten wäre. Diese war bloss der Katalysator, der eine latente Stimmung virulent werden liess.“
Eine kühne Überlegung für die vielen Facebook-Freunde, die nur „Migration“ auf der Pfanne haben!
Und nun, da die Menschen erschöpft von dem Jahrzehnte langen materialistischen Sprint sind, der ohnehin an Schwung verliert, wo man mal kurz Atem holen kann, fällt ihnen auf, dass da noch was fehlt, was man fast vergessen hat.
So etwas wie „Sinn“, „Werte“, „Zugehörigkeitsgefühl“, „Abgrenzung“, „Überschaubarkeit“ die „Sehnsucht nach dem Guten“ und der Wunsch nach moralischer Absolution. Kurz: die Bauelemente der sozialen Matrix.
Und so erleben wir heute ein gewaltiges, letztlich zerstörerisches Wiederstarken dieser Elemente. „Michael O’Sullivan, Banker und Autor eines lesenswerten Buches zur Globalisierung («The Levelling»), zitiert aus Untersuchungen, wonach der Wähleranteil der Populisten in den Industriestaaten ein Niveau wie nach 1930 angenommen hat“ (NZZ). Dabei ist Populismus, - ja, sowohl der „rechte“ wie der „linke“ – nur ein Phänomen von vielen. Unterordnung unter Ideologien, religiöse Ambitionen oder Rückzug in die Familie sind weitere. Man will wieder Teil von etwas sein.
Und nun beginnt das große Hauen und Stechen. „Die Anderen“ sind schuld“, „Wir sind die Erhabenen“, Meinungs- und Sprechverbote für Andersdenkende, Orientierungslosigkeit und offener Wahnsinn, Zunahme von Gewalt und der Zerfall der öffentlichen Ordnung sind weitere Begleiterscheinung einer Erosion des Kerns dieser Gesellschaft.
Wenn man auf den ganzen Wald blickt, macht es keinen Sinn zwischen „rechts“ und „links“ zu unterscheiden. Man sieht nur Menschen, bei denen ein Ventil aufgeht, das jahrzehntelang verstopft war. In der Masse gleicht das einem Vulkanausbruch.
Nichts wird die nun drohende Entwicklung aufhalten können. Wie auch? Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und wer glaubte, dass man ihn mit immer mehr „Brot“ abspeisen kann, erlebt nun eine Überraschung.
Vor vielen Jahren schrieb ich sinngemäß: „Ja, nun führt doch endlich mal die dringend notwendige Diskussion „In welchem Land wollen wir eigentlich leben“. In dem allgemeinen Fortschritts- und Wachstumsjubel wollte das keiner hören. Nun kommt die Rechnung für eine Gesellschaft, die keine Werte mehr vermittelt hat, in der alles relativ war auf dem Weg in den Hyperindividualismus.
Längst ist die Spaltung der Gesellschaft in eine Zersplitterung übergegangen. Nun fällt auseinander, was nicht (mehr) zusammengehört!