1.
Neulich sah ich eine längere Dokumentation über Schweinezucht. Dort wurde ein Bauer mittleren Alters gezeigt, der seinen Hof auf biologische Ferkelzucht umstellte. Ein heikles Unternehmen, für das er enorme Kredite brauchte. Als der Stall dann fertig war, gab es schöne, große Boxen statt Gitterkorsett für die Säue.
Dann war es soweit. Die erste Sau stand kurz davor zu werfen. Der Bauer stand mit seinen 3 Kindern (unter 10 Jahre) an der Box und das Glück und die Freude aller vier waren mit Sicherheit nicht gespielt. Er sagte, dass er das noch nie so erlebt hatte, dass ein Schwein ja kein Produktionsmittel, sondern ein Lebewesen mit eigenem Verhalten sei. Die Sau begann das reichlich vorhandene Stroh zu schichten, um ein Nest für die Jungen zu bauen. Dann wurden diese geboren, und die Sau zeigte das ganze natürliche Verhaltensrepertoire. Platz genug war ja da. Dem Bauer fiel auf, wie aufmerksam die Sau war und ihn beobachtete, um ggf. die Jungen zu schützen. Die Kinder des Bauern waren ganz aus dem Häuschen. Der Bauer, den natürlich Absatz und der Kredit sorgten, sagte, er sei jetzt absolut sicher, dass er das Richtige getan habe.
Nun soll es in diesem kurzen Text nicht um ökologische Landwirtschaft gehen. Für mich verkörperte das Gezeigte das, was mich am meisten interessiert: Qualität. Kaum einer weiß, was das ist, und alle suchen es in den cleveren Werbeversprechen. Und eigentlich – ohne es zu ahnen – ist die (Lebens-) Qualität das, was alle schmerzlich vermissen. Denn sie leben in einer Welt, in der alles nach quantifizierbaren Benchmarks abläuft, die dem Diktat des optimize-to-the-max unterliegen. Ein mehr oder minder freudloses Dasein, dass nur bei maximaler Flucht durch Mediennutzung zu ertragen ist. Und natürlich: Die Menschen sind nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Ich hatte dazu immer wieder unter KK geschrieben.
2.
Ich bin selbst mal LKW gefahren, was mir ein schöner Job schien, die Sonnenauf- und untergänge am Steuer im Ausland z.B.. Jedenfalls bin ich hier auf FB in einigen LKW-Fahrer-Gruppen und lese da aufmerksam mit. Es gibt wohl kaum eine Berufsgruppe, die derart gebeutelt wird. So ist es kein Wunder, dass die Branchenverbände vor Versorgungsengpässen warnen, weil bald 60.000 Fahrer fehlen. Da kommt nun alles zusammen: optimize to the max, Überreglementierung, Billigfahrer aus der Ukraine, bzw. seit neuestem sogar von den Philippinen, EU-Wahnsinn, keine Stellplätze, horrende Führerscheinkosten und regelmäßige, sinnfreie Fortbildungen.
Mir tut das in der Seele weh. Es ist eigentlich ein guter Job, aber total kaputt gemacht. Neulich las ich die 170 Kommentare unter einem Post und war ehrlich überrascht, wie viele Fahrer ihren Job verfluchen, („ich bereue jeden Tag der 14 Jahre, Gottseidank habe ich jetzt einen anderen Job“). Wohlgemerkt: Die meisten haben diesen Job mal gerne gemacht, sind der richtige Typ dafür. Aber das, was heute abläuft, ist kaum noch zu ertragen. Übrigens: die Lebensmittel bei den Discountern sind auch deshalb so billig, weil man am Lagerpersonal spart und die Fahrer gesetzeswidrig zum Abladen drängt.
Aber mir geht es hier auch nicht um das Speditionsgewerbe. Es geht um den Mangel an Qualität, den Optimierungswahn und die Hetze, die allgegenwärtige Freudlosigkeit. Letztere kann man ja spüren, wenn man in Deutschland mit offenen Sinnen durch die Stadt geht. Kein Wunder, dass keinem mehr etwas an dieser kaputtoptimierten Gesellschaft liegt.
Für mich die Beschäftigung mit Qualität seit Jahren das spannendste Thema. Es ist schon verblüffend, dass sie in den all den politischen und ökonomischen Analysen nicht stattfindet. Warum, ist klar: sie ist nicht vollends objektivierbar, nicht quantifizierbar und deshalb auch nicht gesteuert optimierbar. Und dennoch ist sie eine Ursehnsucht der Menschen.
Aber es besteht auch kein Interesse an der Beschäftigung mit Qualität. Warum? Weil der, der seine Qualität, seine Zufriedenheit gefunden hat, nicht mehr zum Sklaven, zum Hamster im Rad taugt. Warum noch schneller rennen, wenn es reicht? Wenn man das rechte Maß gefunden hat. Aber der Irrsinnszirkus muss ja weitergehen, bis alles in die Brüche geht. Und das ist sehr bald. Optimized to desaster.
3.
In der NZZ las ich vor ein paar Tagen einen Artikel, in dem es unter anderem über meinen Lieblingsautor Albert Camus ging. Er verabscheute die Maßlosigkeit, sah in ihr den Quell vielen Übels. Er sehnte sich nach dem Ideal der antiken Griechen, die dem rechten Maß sogar eine Göttin, Nemesis, gewidmet hatten. Eine Hochkultur, keine Frage.
Ja, die Qualität hat ihr Maß; die Moderne nicht mehr. Ein Beispiel ist für mich der Kapitalismus, dem die Maßlosigkeit inhärent ist. Zur Not macht man halt Derivate von Derivaten von Derivaten u.s.w.. Ich wundere mich oft, wenn ich hier auf Facebook sehe, dass viele aus Abscheu vor dem Sozialismus den Kapitalismus loben. Lächerlich und laienhaft, wie so viele der Diskussionen hier. Bei zwei so großen, weltbestimmenden Modellen kann meines Erachtens die Wahrheit nur in der Mitte liegen, ganz grundsätzlich. Aber ein Diskurs findet ja nicht mehr statt.
Um auf den Artikel in der NZZ zurückzukommen: Camus hatte gezeigt, dass auch der Revolution die Maßlosigkeit innewohnt. Sie ist wie der Kapitalismus letztlich „unmenschlich“. Er setzt gegen beides „Den Menschen in der Revolte“ und wendet sich gegen „den Konformismus eines Denkens, das keine Grenzen anerkennen will“. „Wo kann das Maß liegen in einer Welt, die Maßlosigkeit zur Regel erklärt hat“?
4.
Die Qualität kennt ihr Maß. Denn das Maß aller Dinge ist der Mensch. In seiner Schrecklichkeit und Schönheit. Aber was ist der Mensch? Diese zentrale Frage findet in all den aktuellen Diskussionen nicht statt. Stattdessen wird geschwafelt, ideologisiert und politisiert. Da werden letztlich sinnlose Modelle und Utopien entworfen, die höchstens Unterhaltungswert haben. Ich amüsiere mich eigentlich nur noch, wenn ich den täglich größer werdenden Output an Artikeln und Essays zur Kenntnis nehme.
Für mich persönlich ist klar, warum diese Frage gemieden wird. Denn sie verweist immer wieder auf die Frage „Wer bin ich?“ Und wer will das schon wissen?
Mein Gefühl sagt mir, dass der Bauer in dem obigen Beispiel jedenfalls nun auch etwas mehr über sich fühlt. Denn die Qualität vereint das Subjekt mit den Objekten. Sie ist kein bloßer Wert auf den Rechenschiebern der Wirtschaftsbosse und Politideologen. Sie lässt sich nicht gegen den Menschen wenden, um ihn in Unfreiheit zu werfen und zu halten.
Die Masse wird das vorerst nicht begreifen. Sie wird weitermachen in ihrem Optimierungswahn, obwohl sie längst ahnt, dass aus dem Wachstum die Luft raus ist, dass es die Kinder (wenn man nicht schon drauf verzichtet hat) einmal nicht mehr besser haben werden und der Konsum durchaus auch eine hässliche Fratze hat.
Diese Gesellschaft wird untergehen. Aus Gründen, die die meisten nicht einmal ahnen. Aber bis dahin lässt sich ja noch trefflich klugscheißen. Die Freude kehrt allenfalls nach dem Untergang und einer längst fälligen Zeitenwende zurück.
(Kurt Klarich)
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