Ein religiöser Fanatiker verabschiedet seine Töchter, bevor er sie als lebende Bomben in eine Polizeistation schickt. Das macht nachdenklich. Allerdings drehen sich meine Gedanken weniger um diesen Idioten und die bedauernswerten Kinder, sondern um den Zustand unserer degenerierten und dekadenten Gesellschaft.
Wie ein naives Kleinkind unterschätzen wir die unglaubliche Macht von Religion und Ideologien vollkommen. In Bezug auf den Islam spielen wir mit dem Feuer.
Wir sind derart überzeugt von unseren materialistischen und rationalistischen Fetischen, die wir wie das goldene Kalb umtanzen, dass wir alles verdrängen, was unsere angeblich so objektive und wertfreie Idylle stören kann. Wir schreiben die Geschichte um, wollen sie als Abfolge rationaler Entscheidungen und nachvollziehbarer Kausalketten sehen. Wahrscheinlicher ist, dass die Historie mehr durch Wahn, Irrationalität, Affekte und Glauben vorangetrieben wurde, denn durch Rationalität.
Mit welcher Anmaßung und Ignoranz wähnen wir doch die dunklen Kräfte gebannt! Wir können sie nicht einmal mehr wahrnehmen. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Jener Firnis der Zivilisation ist dünner als wir denken.
Die Mahnungen belächeln wir als Kalendersprüche: „Die Feder ist mächtiger als das Schwert“, „Der Glaube versetzt Berge“. Kaum noch jemand kennt die unglaubliche Bibelgeschichte, in der Isaak seinen Sohn auf Geheiß Gottes opfern wollte. Sie sollte uns eine Warnung sein.
War je eine Gesellschaft derart vertrottelt wie unsere? Nicht mal die ursprünglichsten Kulturinstinke, etwa die Abkapslung fremder, kultureller DNA, sind noch vorhanden. Unsere Borniertheit stinkt zum Himmel. Wir haben uns derart an ein Leben unter dem Diktat materieller Erpressung gewöhnt, das uns von der Wiege bis ins Grab mit dem Entzug materieller Güter und finanzieller Spielräume bedroht, dass es für uns unvorstellbar ist, dass es Menschen gibt, bei denen diese Perversion nicht verfängt. Die jenseits des materiellen Vorteils und der geheuchelten Wohlstandsversprechen ihre metaphysischen Prioritäten gesetzt haben, für die sie bereit sind, auf alles zu verzichten und möglicherweise ihr Leben zu opfern. Wir glauben ernsthaft, dass diese Menschen nach „Integration“ in diese erbärmlich sinnentleerte Zivilisation dürsten. Das sie, wie wir, für immer hohlere Wohlstandsversprechen und materiellen Tinnef Tradition und Glaube einfach aufgeben.
Ich wollte mal eine Kurzgeschichte über eine fiktive moderne Kindstaufe schreiben. Diese findet im Schalterraum einer Bank statt und das nackte Kind wird von den Verwandten vom Kopf bis zur Sohle mit Geldscheinen bedeckt. Der „Priester“ im dunklen Business-Anzug spricht daraufhin die Initiationsformel: „Möge der Strom des Geldes bis zu deinem Todestag niemals abreißen. Du musst ihm Tag für Tag mit ganzem Herzen dienen. Denn ohne Geld bist zu selbst in dieser wohlhabendsten aller Welten ein Nichts.“ Dann verneigt sich die Taufgesellschaft vor einer Art Altar, auf dem eine einen Meter große Statue einer Person steht, die Norbert Blüm nicht unähnlich ist. Man betet um die Gunst der „Rente“, an die man mit Inbrunst glaubt.
Das ist die Perspektive für die Integrierten, für die Verführten, die den billigen Zauber von Markenprodukten, neuen Badezimmerarmaturen, omnipotenter Unterhaltungselektronik oder prestigeträchtigen Fahrzeuge preisen. Undenkbar für uns, dass Menschen diesem Zauber nicht erliegen könnten. Menschen, die ihr Glaube oder ihre Ideologie immun gemacht haben für die Versprechungen, denen wir alles opfern.
Wir sollten fürchten, was hinter diesen Menschen steht, jene uralte Macht, die immer wieder Geschichte geformt hat. Voller Anmaßung glauben wir, sie ließe sich korrumpieren. Es werden Teddybären geschwenkt und Plakate mit Herzen gemalt, in denen geschrieben steht: „Wir lieben euch.“ Und hinter vorgehaltener Hand flüstern wir über unsere unglaublich dämlichen Visionen vom Fachkräftemangel und über zukünftige Beitragszahler in die Rentensysteme.
Wir sind naiv. Naiv und wehrlos. Warum sollten wir auch etwas schützen oder bewahren wollen? In unserem materialistischen Universum kann man ja alles wieder neu kaufen, ist unsere Überzeugung.
Und unsere Einwanderer? Sie interessiert - vorerst - nur der leicht erhältliche Anteil am Wohlstand. Sie wissen: Was anderes ist hier nicht zu holen. Wenn dieser allerdings versiegt, könnte es sein, dass wir auf höchst schmerzhafte Art und Weise an die Macht des Glaubens erinnert werden.