Seit Jahren beschäftige ich mich mit einem gedanklichen Modell, das mich immer tiefer in seinen Bann zieht. Es besagt, extrem verkürzt, dass Qualität nicht definierbar ist, weil sie keine Eigenschaft von Objekten ist. Damit ist sie auch wissenschaftlich nicht greifbar. Auf der anderen Seite ist der Begriff „Qualität“ in aller Munde, etwa in der Werbung. Qualität ist allerdings auch keine Eigenschaft von Subjekten. Nach dem gedanklichen Modell, geht Qualität der Trennung von Subjekt und Objekt voraus, sie ist quasi der „Grund“ warum es diese Trennung gibt.

Das stellt die Erkenntnistheorie und die Wissenschaft ziemlich auf den Kopf. Denn erste Unterscheidung jeder Erkenntnis ist die Trennung von Subjekt (Erkennender) und Objekt (zu Erkennendem). Dass es da noch etwas gibt, das dieser Trennung vorgelagert und nicht objektivierbar ist, und sich damit der klassischen Erkenntnis entzieht, ist in der Wissenschaft nicht vorgesehen. Dabei hätte das Modell, dass hier notwendigerweise sehr abstrakt daherkommt, enorme Konsequenzen. Unter anderem würde es die strenge Trennung zwischen (westlicher) Wissenschaft auf der einen Seite und Kunst oder Esoterik auf der anderen Seite auflösen.

Aber ich will hier nicht philosophieren. Ich wollte nur deutlich machen, dass mich der Begriff der Qualität nicht loslässt. Ich stelle fest, dass wir in einer Welt der „Quantitäten“, des objektiv Messbaren, leben und irgendwie scheint es mir, dass wir alle – im Großen wie im Kleinen - dem Wahn des „optimize-to-the-max“ verfallen sind in der Hoffnung, dass wir irgendwann am Ende die verlorene Qualität wiederfinden. Die Rechnung geht allerdings nie auf. Denn was man optimiert, kann man immer weiter optimieren. Die Qualität hat allerdings ihr eigenes Maß. Sie kann nicht optimiert werden. So werden wir also weiter und immer schneller auf dem falschen Pfad laufen und der Optimierung frönen, im Großen bspw. dem Wachstumswahn oder der Bürokratisierung, als Individuum werden wir weiter Fitness, Konsum, Ernährung oder Beziehungen optimieren.

Gestern war ich meine Mutter in Essen besuchen. Sie ist 82 Jahre alt und lebt allein. Eigentlich wollten wir etwas rausfahren, aber da es regnete, sind wir erst einmal auf den Markt gegangen, der direkt vor der Tür stattfindet. Vor der Haustür spannte meine Mutter ihren Schirm auf und klagte mir ihr Leid. Alterstypisch hat sie Arthrose in den Händen und kann nicht mehr kräftig zugreifen. Es macht ihr Probleme, den Schirm zu halten. Sie wollte allerdings auch nicht, dass ich ihr den Schirm hielt.

Wir gingen zu einem Wurststand und Mutter kaufte Wurst. Neben ihr standen noch zwei weitere, ältere Damen. Insgesamt drei Verkäuferinnen bedienten die Kundschaft vor dem recht kleinen Wagen. Ich stand etwas abseits und kam mir vor wie aus der Zeit gefallen. Sätze wie „Ist die Mortadella frisch?“, „Hält sich der Schweinebraten?“, „Haben sie heute keinen Schwartemagen?“ drangen an mein Ohr. Freundlich antworteten die Verkäuferinnen. „Ja, dann geben sie mir 2 Scheiben“ oder „Ich nehme 4 Scheiben Salami“ lauteten die Bestellungen. Die Verkäuferinnen nahmen dann jeweils die Wurst von der Theke, schnitten auf der Schneidemaschine zwei oder vier Scheiben ab, verpackten diese sorgfältig in Frischhaltepapier und legten das Päckchen mit den obligatorischen Worten „Darf es sonst noch was sein?“ auf die Theke. Meine Mutter erwarb 3 Päckchen mit jeweils zwischen 2 und 4 Scheiben Wurst.

Ich war fasziniert. Gleichzeitig ratterten betriebswirtschaftliche Kenngrößen durch meinen Kopf und ich fragte mich, wie um alles in der Welt dieser Wurststand Profit erwirtschaften konnte. Ich schätze mal, der Kaufvorgang meiner Mutter hatte vielleicht 10 Minuten gedauert. Wie groß sind die Margen bei 8 Scheiben Wurst? Wie ist der Stundensatz der Verkäuferin? Kann man das nicht optimieren, etwa durch vorgeschnittene Wurst, die man schnell in Plastikbeutel verfrachtet? Aber ich ahnte, dass all dieses Denken in quantifizierbaren Größen letzten Endes nur eines erreichen würde: Es würde diese Ahnung von Qualität, von Ruhe und Miteinander zerstören. Es ist doch immer so.

Mutter spannte dann ihren Schirm auf, und wir gingen noch zu einer kleinen Imbissbude, die jeden Tag ein Gericht mit Hausmannskost anbot. Keine schlechte Idee in einer Gegend, die ich insgeheim „Die Straße der alten Frauen“ nannte. Eine Folge der längeren Lebenserwartung der Frau. Mutter kaufte sich eine Portion Grünkohl mit Mettwurst. Ich nahm ein Schaschlik und wir machten uns auf den Rückweg. Immer wieder schimpfte Mutter über ihren Schirm. Ich musste diesen in die Hand nehmen und prüfen, aber mir fiel nichts auf. Ich fand den Schirm leicht.

Zuhause aßen wir gemeinsam. Mutter hatte ein wenig Schwierigkeiten die Wurst zu schneiden, und schnell waren wir wieder beim Thema „Hand und Schirm“. Nach dem Essen musste ich noch einmal den Schirm testen, aber ich fand ihn immer noch angenehmen leicht. Mutter holte daraufhin zwei weitere Stockschirme, die ebenfalls aufspannen musste. Prima Schirme, wie ich fand. Alle hatte diese Aufspannautomatik, die meine Mutter irrtümlich als „elektrisch“ bezeichnete, was bei mir für einige Verwirrung sorgte.

Ich verstand nicht, wieso es scheinbar nirgendwo einen passenden Schirm für Mutter gab. Das Problem schien mir die Aufspannautomatik zu sein. Die große Feder verlagert den Schwerpunkt des Schirmes nach oben, was am Griff zu anderen Kräfteverhältnissen führt. Ich schlug vor, man könne doch sehen, ob vielleicht im Internet…?

Aber davon wollte meine Mutter nichts wissen. Sie eilte ins Schlafzimmer und kam mit einem alten Stockschirm zurück, dessen Griff schon ganz abgewetzt war. Fast zärtlich hielt sie ihn in der Hand und mit weinerlicher Stimme sagte sie mir, dass dies ihr über alles geliebter Schirm sei, dass sie jahrelang damit sehr glücklich gewesen wäre, er kaputt sei und ihr fehle. Staunend nahm ich den Schirm zur Hand. Er kam mir nicht wesentlich leichter vor als die anderen Exemplare.

Dann meinte Mutter, ich solle mal schauen, ob ich ihn reparieren könne. Meine Mutter hält mich manchmal irrigerweise für ein handwerkliches Universalgenie. Ich vertiefte mich also in die Mechanik und versuchte, eine Metallstrebe wieder einzusetzen. Bei meinen Bemühungen stellte ich fest, dass diese nicht etwa herausgerutscht, sondern gebrochen war.

Ich teilte dies meiner Mutter mit. Sie war nicht besonders schockiert, sondern erwähnte mit (gespielter?) Beiläufigkeit, dass es am an der Ende der Stadt, in Essen-Heisingen, ein kleines Geschäft für Schirmreparaturen gäbe. Ich konnte das erst gar nicht glauben. Wer repariert denn heute noch Schirme? Ich war neugierig.

Als wir dann überlegten, was wir noch unternehmen wollten, schlug ich angesichts des Regens vor, wir könnten doch nach Heisingen zu dem Schirmfritzen fahren. Sah ich da ein Leuchten in den Augen meiner Mutter?

Jedenfalls fuhren wir quer durch Essen nach Heisingen, wo ich 9 meiner ersten 10 Lebensjahre verbracht hatte. Erinnerungen an eine vollkommen andere, übersichtlichere und ruhigere Welt stiegen in mir auf. Nach einigem Suchen entdeckten wir an einer Einfahrt ein Schild „Schirmreparaturen“. Im Hinterhof betraten wir ein winziges Büro, in dem überall Schirme hingen oder lagen. Meine Mutter schilderte einem freundlichen alten Mann ihr Problem und - fast entschuldigend -, warum sie diesem Schirm über alles liebte. Ganz Profi inspizierte er den Schaden und versicherte uns, dass die Reparatur kein Problem sei. Er gab uns einen Abholschein und sagte, dass der Schirm in 2 Wochen abgeholt werden kann.

Auf dem Rückweg zum Auto sagte mir Mutter freudestrahlend, wie glücklich sie sei, dass sie bald ihren Schirm wieder hätte. Man sah es ihr an. Wir fuhren dann zu einem Einkaufszentrum, um dort Kaffee zu trinken. Noch dreimal an diesem Nachmittag, ganz spontan, kam sie auf den Schirm zu sprechen und strahlend sagte sie, wie glücklich sie sei. Beim letzten Mal – schon zuhause – riss sie beide Arme hoch und mir war, als machte sie einen kleinen Freudenhüpfer.

Nachdenklich fuhr ich zurück. Ich war dankbar für diesen Tag. Eigentlich war es eine Lektion in „Qualität“. Qualität, dachte ich, ist in dieser Angelegenheit keine Eigenschaft dieses abgegriffenen alten Schirms. Es ist auch keine Eigenschaft meiner Mutter. Qualität war das, was beide verbindet. Sie kann nicht optimiert werden, weil sie Anfangs- und Endpunkt in einem ist.

Ich musste grinsen beim Gedanken an eine wahnsinnig gewordene Welt, den Virus des „optimize-to-the-max“ und die Menschen, die immer schneller eine Straße langrennen, die sie nie dahin führen wird, wo sie eigentlich hinwollen.

Ja, ich hoffe, dass es irgendwann eine neue Renaissance gibt, und spätere Zivilisationen über uns Irregeleiteten schmunzeln werden.

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Monikako

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