So! Jetzt haben wir genug gelacht, gespottet und geschimpft über Aydan Özoguz, die scheinbar unterbelichtete Integrationsbeauftragte, die sich lächerlich gemacht und ihre eigene Aufgabe ad absurdum geführt hat (Integration – worin eigentlich?). Den Spott hat sie wohl verdient.

Aber hat sich mal jemand die Frage gestellt, ob die Frau nicht vielleicht letzten Endes Recht hat mit ihrem Statement „eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar”?

Wohl kaum, denn alle Kommentatoren fallen auf den Reizbegriff „spezifisch deutsch“ rein und schwadronieren munter vor sich hin. Hier hat offensichtlich jeder seine eigenen Vorstellungen. Auch unser Innenminister hat mit seinen scheinbar schnell aus der Rippe geleierten „15 Thesen zur kulturellen Integration“ demonstriert, dass man so keinen Konsens erzielen kann.

Nein, in dieses Fettnäpfchen werden wir nicht stolpern. Machen wir es uns einfach: Wenn Deutschland überhaupt keine Kultur hat/ist, dann folgerichtig auch keine spezifisch deutsche, und Özoguz hat zu mindestens nicht unrecht.

Natürlich lässt sich diese Frage nicht erschöpfend unterhalb des Formates eines Buches beantworten. Aber ein paar Denkanstöße lassen sich schon geben. Zum Beispiel so:

„Kann es sein, dass eine Kultur sich durch ein kollektives WOLLEN definiert, das darauf abzielt, DIESE Kultur vitaler und stärker zu machen, voran zu bringen?“

Nach allgemeiner Lesart in diesem degenerierten Land offensichtlich nicht. Ich habe mir heute noch einmal die 15 Thesen von Lothar durchgelesen und bin regelrecht erschrocken. Quatsch: Ich war angewidert. Das soll ein Beitrag zur Leitkultur sein? Es taucht nicht einmal der Begriff „wir“ auf; zwei Mal, wo es unvereinbar ist, wird „unser“ verwendet. Das ist so neutral geschrieben, als schämte sich jemand, sich überhaupt mit diesem Thema beschäftigen zu müssen.

Leitkultur? Wen, zum Teufel, soll das „leiten“? Wohin, verdammt nochmal?

Ja, das scheint mir das Wesen von Kultur, dass sie letztlich mit ihren mannigfaltigen Facetten einen WILLEN manifestiert irgendwohin zu gelangen, irgendwas zu erreichen.

Spezifisch deutsch? Wenn es wenigstens etwas spezifisch Kulturelles gäbe!

Aber uns ist dieses WOLLEN, der WILLE einer Kultur, mittlerweile vollkommen fremd. Wir sind wahrlich dekadent! Das war nicht immer so. Ich las heute wieder ein wenig Nietzsche „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fürs Leben“. Und eigentlich wollte ich heute Abend etwas ganz anderes schreiben. Ich wollte meine FB-Freunde fragen, worin denn der Nutzen für ihr Leben liegt, wenn sie eine Horrormeldung nach der anderen raushauen oder obskure Verschwörungstheorien verbreiten. Habt ihr das Maß verloren, wollte ich fragen? Es geht doch um den Nutzen für das Leben. Mach euch das stärker? Warum tut ihr das dann?

Jedenfalls finden sich bei Nietzsche und anderen „großen Geistern“ viele Passagen, die zeigen, dass ihnen der „Wille einer Kultur“ noch vollkommen selbstverständlich war. Nietzsche wandte sich gegen den bloßen, akademischen Historizismus „Die

monumentalische Historie treibe den Menschen zu großen Taten an, die antiquarische bewahre seine kollektive Identität, und die kritische beseitige schädliche Erinnerungen.“ Alle hatten ihre Berechtigung lediglich darin, eine Kultur voran zu treiben. Und alle hatten ihre schädlichen, lähmenden Seiten.

Mich bestätigt das wieder darin, dass es sich lohnt, sich mit anderen Perspektiven aus anderen Zeiten zu beschäftigen. Glaubt mir, Antworten auf den Showdown des Wahnsinns, den wir gerade erleben, werdet ihr in den tagesaktuellen Artikeln und Blogs nicht finden. Ich las heute ein wenig in dem Blog eines offenbar sehr populären Untergangspropheten aus Südostasien. Für mich hanebüchener Unfug. Aber jeder, wie er mag.

Aber kommen wir nochmal zurück zu der Ausgangsfrage. Wo ist der Wille der deutschen „Kultur“, der sie vitaler, stärker macht? Wo ist die „plastische Kraft“, die unter anderem darin besteht, „Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben“ (Nietzsche).

Die Antwort: sie ist nicht (mehr) vorhanden. Mag sein, es liegt daran, dass dieser Wille ehemals eher auf territoriale Expansion abzielte und Deutschland hier zu hoch gepokert hat. Aber das ist doch kein Grund, kultur- und identitätslos durchs Leben zu stapfen!

Ja, das Wollen und die Kultur! Lasst uns spielen. „Wir wollen Weltpolizist sein“ (Amerika). „Wir wollen die Werkbank der Welt sein.“ (China) „Wir wollen unsere Kultur vital und von fremden Einflüssen frei halten“ (Japan). Wir wollen unseren Lebensstil gegen äußere Einflüsse verteidigen“. (Australien). „Wir wollen zu alter Größe aufsteigen.“ (Russland). „Wir wollen unser osmanische Reich“. (Türkei).

Das sind lediglich ein paar spontane Aussagen, die auch anders ausfallen könnten. Die Frage ist aber: Was ist der Wille der deutschen Kultur, der sie stärker und vitaler macht? Antwort: Es gibt keinen. (Wir wollen verschwinden, in Europa aufgehen etc. zählt nicht).

Und eben deshalb hat Özoguz letzten Endes Recht. Anders, als sie das gemeint hat. Das sollten wir bei allem Spott nicht vergessen!

Olaf Kosinsky/Skillshare.eu

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