Ich muss so 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein, als ich der Gemeindebücherei ein abgegriffenes Buch aus dem Regal zog und durchblätterte. Es war voller Schwarzweiß-Fotos, die für mein kindliches Gemüt Unvorstellbares zeigten. Da war die Gruppe nackter Frauen auf dem Weg in die Gaskammer, da waren die Berge voller Brillen, Haare oder Goldzähne, die Bilder der Verbrennungsöfen und die zu Haufen gestapelten Leichen, da war ein Mensch in einer Badewanne voll Eis, ein LKW, bei dem ein Schlauch die Abgase in den Innenraum leitete, und da gab es Fotos von zu Skeletten abgemagerten Menschen in gestreifter Kleidung, die in Regalen in einer Baracke lagen. Noch heute, viele Jahrzehnte später, sehe ich dieses Buch und die Bilder vor mir.

Ich glaube, ich habe dieses Buch dann irgendwann mal ausgeliehen und durchgelesen. Was ich las, hat mich sehr verstört. Die Faszination, die dem Grauen irgendwo innewohnt, lies mich trotzdem weiterlesen. Ich lernte, dass in diesem Land, gar nicht weit vor meiner Zeit als es noch keine Farbe in der Welt gab, wahrhaft teuflisch zugegangen war und viele Menschen grausamste Verbrechen begangen hatten. Dass Deutsche ungefähr zwei Jahrzehnte vor meiner Geburt ein kalt durchorganisiertes Reich des Bösen errichtet hatten.

Es war mein erster Kontakt mit dem Holocaust, der damals noch „Judenverfolgung“ hieß. Später wurde ich immer wieder damit konfrontiert. Im Jugendgottesdienst, im Konfirmandenunterricht und unzählige Male in der Schule. Heute erscheint es mir, als hätten wir im Geschichtsunterricht nie etwas anderes durchgenommen als „Nationalsozialismus“. Man sagte mir, dass wir Deutschen schuldig seien und ich, da Deutscher, mich auch schuldig zu fühlen hätte.

Kollektivschuld - mal wieder.

Das hat mir jedoch noch nie eingeleuchtet. Ich ließ mich nie beirren. Wie kann ein Mensch schuldig sein für etwas, was vor seiner Zeit geschehen ist? Außerdem fiel mir ein merkwürdiger Widerspruch auf. Die Nazis hatten ein Konstrukt, das sich Kollektivschuld und Kollektivstrafe nannte, um ihre Gräueltaten zu rechtfertigen. Man lehrte mich, dass dies gewissermaßen ein Grundstein des verbrecherischen Wirkens war und entschieden abgelehnt werden müsse. Wie konnte man mir jetzt sogar mit einer generationenübergreifenden Kollektivschuld kommen?

Mir fielen noch andere Widersprüche und Ungereimtheiten auf. Aber ich sah darüber hinweg, denn ich verstand die Absicht und Zielsetzung der Beschäftigung mit Holocaust und Nationalsozialismus nur zu gut: Das darf nie wieder geschehen. Nur zu gern würde ich mich dafür stark machen, dass so etwas nie wieder geschieht. Allerdings beschlichen mich zunehmend Zweifel, ob das gebetsmühlenartige Wiederholen der Gräuel, die Schuldbeschwörungen und die Dämonisierung Hitlers und anderer Akteure der richtige Weg sind.

Das Thema ließ mich nicht los. Es konnte mich nicht loslassen, denn in Zeitschriften und Fernsehen wurde ich immer wieder damit konfrontiert. Es schien eine regelrechte Nazi-Hysterie zu geben und offensichtlich faszinierte nichts die Deutschen so sehr wie die unfassbaren und verachtenswerten Ereignisse ihrer jüngeren Geschichte.

Leben mit Scheuklappen

Eine für mich überzeugende Antwort auf die Frage „Wie konnte eine ganze Gesellschaft auf den Pfad des Bösen gelangen“, konnte ich trotz hunderter, ja vielleicht tausender Stunden, in denen ich mit dem Thema beschäftigt wurde, nicht finden. Erst später, als ich „die Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich las, begann es mir zu dämmern. Und erst heute, wo ich sehe, dass ungeheure, meiner Meinung nach bedrohliche Umwälzungen in diesem Land stattfinden, wo ich das Schweigen der Mehrheit, das Desinteresse, das naive Hoffen, das Fokussieren auf den unmittelbaren Nahbereich und die Scheuklappen wahrnehme, spüre ich, dass ich endlich einer für mich befriedigenden Antwort auf die Frage „Wie konnte das alles passieren“ näher komme. Ich fühle mich in meiner Skepsis aus jungen Tagen und dem frühen Verdacht bestätigt, dass diese Art „Aufarbeitung der Vergangenheit“ keinen Schutz vor neuerlicher Pervertierung einer Gesellschaft bietet. Schade um die verschwendete Zeit.

Doch zurück zum Holocaust. Noch immer ist dieser für mich das abscheulichste Verbrechen, was Menschen je begangen haben. Ich habe mich oft gefragt, warum eigentlich? Was hebt den Holocaust aus der endlosen Reihe menschlicher Grausamkeiten so hervor? Die Spanier hatten halb Südamerika dahingemetzelt und Indiokinder noch getauft, bevor sie diese in den Abgrund stürzten, denn schließlich handelte man im Auftrag Gottes. Leopold II, König von Belgien, hatte 8 bis 10 Millionen Kongolesen massakriert, in Australien hatte man Aborigines wie Vieh gejagt, die Japaner hatten während ihrer Mordwellen in China grausamste Menschenversuche mit Vivisektionen durchgeführt und Mao soll um die 50 Millionen Menschen auf dem Gewissen haben. Ich erspare mit hier weitere Aufzählungen.

Vernichtung in industriellem Maßstab

Das, was für mich den Holocaust aus all den Monstrositäten, die Menschen begangen haben, heraushebt, sind seine industrielle Dimension, die absolute Kälte, das Streben nach Präzision und Effizienz, die Versachlichung von Menschen und die Bürokratisierung. Ich denke, das ist wirklich einmalig und es wundert mich nicht wirklich, dass er von Deutschen begangen wurde. Nicht die Zahl der Opfer hebt den Holocaust hervor, nicht die Grausamkeiten, sondern die Industrialisierung der Vernichtung. Für mich ist das der Gipfel der Menschenverachtung. Es weckt in mir eine kreatürliche Abscheu. Ich finde, ein Mensch, der von anderen ermordet wird, hat ein Recht auf deren Hass, einen Exzess oder deren emotionale Entgleisung.

Aus diesem Grund widern mich auch Hinrichtungen, etwa in den USA, so sehr an. Es ist der gleiche menschenverachtende Ungeist. Man tötet Menschen nicht mit der kalten Präzision eines Uhrwerks, will mir scheinen. Ich fände es „humaner“, würde man einem Verwandten des Opfers eine Pistole anbieten und ihm die Hinrichtung überlassen.

Andere Völker haben auch Grausamkeiten gegen Menschen in großem Stil begangen. Doch nirgends wird ein derartiger Kult um die Schuld gemacht, wie in Deutschland. Das mag politisch oder ideologisch gewollt sein. Für mich reicht das als Erklärung nicht aus.

Verantwortung statt Schuld

Mir scheint ein Grund darin zu liegen, dass wir den wahrhaft teuflischen Kern des Holocaust immer noch nicht sehen wollen. Ich glaube, Albert Camus schrieb einmal: „Wo es Verantwortliche gibt, gibt es keine Schuldigen“. Mir gefällt dieser Satz. Man stellt sich seiner Verantwortung, man zahlt den Preis, nimmt eine Strafe auf sich, lernt daraus und zieht die richtigen Schlüsse für die Zukunft.

Für mich – und ich spreche hier nur für mich – habe ich das getan. Und deshalb spielt der Holocaust für mich keine Rolle mehr. Ich bin nicht naiv und glaube nicht, dass Gräueltaten wie Massenmord oder Krieg der Vergangenheit angehören. Meine persönliche Lektion aus dem Holocaust lautet: Nie wieder darf man Menschen objektivieren, zur Sache machen, ihr Leben den Gesetzen von Bürokratie und Effizienzsteigerung unterwerfen und ihnen ihre Individualität absprechen. Ich weiß, wenn dies gewährleistet wäre, wäre ein Holocaust in der Form nicht mehr möglich. Das Gespenst wäre gebannt.

Aber wenn ich mich heute umschaue, stelle ich fest, dass gerade hier, im Land der Bürokratieweltmeister und Industriespezialisten, der Effizienzeuphoriker und Präzisionsfanatiker, die Objektivierung von Menschen weiter voranschreitet. Es mag für Viele weit hergeholt sein, aber ein Hartz4-Satz auf den Cent genau, die perfiden Bestrebungen in Sachen Social Engineering, das Hineinregieren in das Private, die Ideologisierung im Bildungssystems, die pauschale Ausgrenzung ganzer Gruppen und vieles andere sind für mich besorgniserregende Zeichen. Wir opfern mit bürokratischem Eifer die Menschlichkeit der Effizienz und fragwürdigen Ideologien.

Aber wenigstens haben wir die Erinnerung an den Holocaust und unsere Schuld!

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