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»Überheblich, arrogant, verachtend« oder einfach nur »kaputt bzw. dement« – Diese Attribute handelte sich Bundeskanzler Olaf Scholz jüngst in der ansonsten eher als Kuschelmedien zu bezeichnenden deutschen Mainstream-Presse ein. Nachdem der Kanzler am Freitag erneut vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss erscheinen musste und sich seine "Erinnerungslücken" in der Causa Cum-Ex offenbar noch weiter vergrößert haben, titelt das - sonst eher stramm auf Regierungskurs liegende - Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ungewohnt frech: »Der Scholzomat ist kaputt«. Stern-Autor Oliver Schröm, der den Auftritt des Bundeskanzlers im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss verfolgt hat, bescheinigt ihm, »überheblich, arrogant [und] verachtend gegenüber Abgeordneten« zu sein, während die Bild vom »Kann-sich-nicht-erinnern-Kanzler« (€) spricht, den bei der Befragung »mehr als 20-mal die Erinnerung verließ«, um anschließend zu konstatieren, »seine Glaubwürdigkeit habe heute schwer gelitten«. Im aktuellen Artikel von heute morgen legt Bild noch einmal nach und macht aus »Scholzheimer« den »Kanzler Weißnix«, und korrigiert sich bei der Auflistung der Scholz'schen "Erinnerungslücken" nochmals nach oben: »Mehr als 50 mal sagt der Kanzler vor dem Untersuchungsausschuss des Hamburger Parlaments zur Aufklärung eines der größten Steuerskandale in der Geschichte der Bundesrepublik, er könne sich nicht erinnern.«
Drei Beispiele aus dreieinhalb Stunden Befragung (Quelle: Bild):
► 14.37 Uhr: "Keine Ahnung." – "Das weiß ich nicht mehr."
► 14.40 Uhr: "Ausgeschlossen für mich ist, mich daran zu erinnern."
► 14.49 Uhr: "An die konkreten Dinge habe ich keine Erinnerung."
Dazu Stern-Autor Oliver Schröm: »[…] ich habe irgendwann aufgehört, meine Strichliste zu führen: Er kann sich an nichts erinnern, er kann sich an nichts erinnern, er kann sich an nichts erinnern … immer wieder.«
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Was soll man von einem Menschen halten, dessen Glaubwürdigkeit mittlerweile nahezu gegen null geht und dem es offensichtlich völlig egal ist, dass der Vertrauensverlust laut jüngsten Umfragen sogar bei den 25 Prozent des Wahlvolkes angekommen zu sein scheint, das ihn zum Bundeskanzler "gewählt hat".
Es geht hier im Kern aber gar nicht darum, wie sehr das Vertrauen in den Kanzler gesunken ist oder die Art und Weise, wie dieser (und auch die Jurisdiktion) mit Kritik und schwerwiegenden Anschuldigungen umgeht, die zweifellos strafrechtliche Relevanz haben und eine lückenlose Aufklärung erfordern. Es geht letztlich um nichts weniger als die Frage, ob unser Rechtsstaat noch funktioniert.
Vor nicht allzu langer Zeit wurden mehr oder weniger hohe Amtsträger wegen weitaus "geringerer Vergehen" aus dem Amt gelobt oder nahmen "freiwillig" ihren Hut: Theodor zu Guttenberg (ehem. Bundesverteidigungsminister), Christian Wulff (ehem. Bundespräsident), Lothar Späth (ehem. BW-Ministerpräsident), Jürgen Möllemann (ehem. Vizekanzler und Bundewirtschaftsminister), Björn Engholm (ehem. Ministerpräsident Schleswig-Holstein und SPD-Parteichef), Günther Krause (ehem. Bundesverkehrsminister), Max Streibl (ehem. bayrischer Ministerpräsident), Gerhard Glogowski (ehem. niedersächsischer Ministerpräsident), Kurt Biedenkopf (ehem. sächsischer Ministerpräsident), Rudolf Scharping (ehem. Bundesverteidigungsminister), Gregor Gysi (ehem. Berliner Wirtschaftssenator) und nicht zu vergessen Cem Özdemir, der, wie Rudolf Scharping, über einen Kredit des PR-Beraters Hunzinger und die private Nutzung dienstlicher Bonusmeilen stolperte und anschließend sein Bundestagsmandat niederlegte. (Quelle: welt.de)
Bis auf Franz Josef Strauß, der 1962 wegen der "Spiegel-Affäre" als Bundesverteidigungsminister zurücktreten musste und später dennoch Bundesfinanzminister, Bayrischer Ministerpräsident und Kanzlerkandidat wurde, kann jedoch keiner der oben erwähnten Protagonisten dem heutigen "Weißnix"-Kanzler das Wasser reichen. Weder der völlig aus dem Ruder gelaufene G-20 Gipfel, noch die Causa Cum-Ex, noch der WireCard-Skandal haben verhindert, dass Olaf der Schweigsame zum Anführer der deutschen Nation gekürt wurde.
Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie konnte das passieren? Wie konnte ein Politiker, der augenscheinlich alles andere als eine weiße Weste hat, in solch eine Machtposition gelangen? Einmal mehr kommt mir die oben bereits formulierte Frage nach dem funktionierenden Rechtsstaat in den Sinn.
Dass Scholz vor seiner Wahl in den Bundestag im Jahre 1998 als Fachanwalt für Arbeitsrecht (Kanzlei Zimmermann, Scholz & Partner) insbesondere Betriebsräte von Großunternehmen bei Sozialplanverhandlungen und in Einigungsstellen beraten und vertreten hat, dürfte wohl einigen bekannt sein. Dass der heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Stephan Harbarth (CDU), für die Kanzlei Shearman & Stirling, die u.a. tief in die Cum-Ex-Affäre verstrickt ist bzw. diese maßgeblich mit eingefädelt hat, als Anwalt tätig und später auch Miteigentümer war (siehe hier ein Bericht der Nachdenkseiten vom März 2020), wissen vermutlich die wenigsten. Wahrscheinlich ebensowenige haben Kenntnis von seiner anwaltlichen Tätigkeit bei der Mannheimer Sozietät Schilling, Zutt & Anschütz (die sich vornehmlich mit "Mergers & Acquisitions" sowie Kapitalmarktrecht beschäftigt), wo er im November 2018 ausschied.
Harbarth, gegen den schon 2018 bei seiner "Wahl" zum Vize-Präsidenten des BVerfG erhebliche Bedenken seitens politisch unabhängiger, hochrangiger Juristen bestanden, war mit dieser Vorentscheidung der Weg zur Nachfolge von Andreas Voßkuhle im Mai 2020 geebnet worden. Welche Gründe bereits damals gegen die Personalie Harbarth sprachen, listete der Autor Werner Rügemer wie folgt auf:
• Als CDU-Abgeordneter im Bundestag hat er nach aller Kenntnis gegen das Abgeordneten-Gesetz verstoßen. Es legt fest: Das Mandat ist die Haupttätigkeit. Doch Harbarth war hauptamtlich als Anwalt tätig mit jährlichen Millioneneinkommen.
• In der Kanzlei Shearman & Stirling, in der Harbarth zunächst Anwalt und dann Miteigentümer war, wurde der größte Steuerbetrug der deutschen Geschichte, der Cum-Ex-Milliarden-Trick, zur juristischen Reife gebracht.
• Shearman & Stirling ist führende Kanzlei bei den internationalen privaten Schiedsgerichten – keine Gewähr für den Schutz des deutschen Grundgesetzes.
• Harbarth hat ab 2008 als Anwalt der Wirtschaftskanzlei SZA große Unternehmen vertreten, die Kanzlei vertritt bis heute die Abgas-Betrüger von VW. Im Bundestag verhinderte Harbarth eine Befassung mit VW.
• Harbarths Kanzlei war und ist zugleich als Steuer-Berater für Unternehmen und für vermögende Privatpersonen tätig. Auch Harbarth war hier tätig.
• Als Abgeordneter trat er für harte Sanktionen bei Arbeitslosen ein. Er verzögerte möglichst lange den gesetzlichen Mindestlohn – dessen millionenfache, straflose Nichtzahlung durch Unternehmer hat der Rechtskundige nie kritisiert.
Rügemers lakonisches Fazit:
"Am 22. und 23. November 2018 wählten Bundestag und Bundesrat den CDU-Abgeordneten Stephan Harbarth zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungs-Gerichts. Dazu hatten sich die Fraktionen der regierenden CDU und SPD auch mit der FDP und den Grünen zu der nötigen Zweidrittel-Mehrheit geeinigt. Harbarth sollte dann 2020 auch Präsident werden. Es gab noch keinen, der so direkt aus der Welt der größten Unternehmen käme. BlackRock & Merz lassen grüßen."
Dass Namen wie Scholz, Tschentscher und Harbarth so eng mit der Causa Cum-Ex verbunden sind, wie es hier offensichtlich der Fall ist, gibt der Sache noch ein zusätzliches G'schmäckle.
Wäre die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich eine funktionierende Demokratie und hätten die Beschuldigten tatsächlich so etwas wie Anstand und Würde, würden sie zurücktreten. Dies trifft auf Scholz, Tschentscher und Harbarth zu. Doch es ist zu erwarten, dass die Anklagen (wie so viele gegen Scholz’ Amtsvorgängerin Angela Merkel) im Treibsand der Justiz verlaufen. Einer (im Falle der Staatsanwaltschaften) sogar gegenüber den Justizministerien weisungsgebundenen Justiz, die laut eines Urteils des EuGH von 2019 deshalb nicht befugt ist, europäische Haftbefehle zu erlassen. (Quelle: contra24.online)
Davon kann auch die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die seit über acht Jahren die Cum-Ex Ermittlungen maßgeblich vorantreibt, ein Lied singen.
Dazu die taz im Juni 2021:
"[…] Brorhilker ermittelt seit 2013 bei der Kölner Staatsanwaltschaft im Cum-Ex-Skandal. Sie merkte schnell, dass sie etwas ganz Großem auf der Spur ist. Und sie will das Geflecht als Ganzes aufdecken, nicht nur einzelne Fälle vom Tisch bekommen. Mit dem Landeskriminalamt in Düsseldorf bildet sie eine gemeinsame Ermittlungsgruppe.
[…] Brorhilkers erster großer Schlag war eine internationale Razzia im Oktober 2014. In 14 Staaten wurden gleichzeitig 130 Gebäude durchsucht, damit sich die Verdächtigen nicht warnen können. Beschlagnahmt wurde auch das Archiv des Steueranwalts Hanno Berger*, der sich viele Cum-Ex-Modelle ausgedacht hat. *(Kanzlei-Kollege von Harbarth bei Shearman & Stirling; 1999-2004)
[…] sie spricht von "Merkmalen der organisierten Kriminalität", vor allem weil die Täter so gut vernetzt waren, bis hin ins Finanzministerium und auch zu Steuerbehörden. Das besonders Gefährliche sei die "Unterwanderung" des Staats, so Brorhilker.
[…] Im März dieses Jahres musste die 47-jährige Juristin aber auch einen herben Rückschlag hinnehmen. Ihre Vorgesetzten stoppten die Durchsuchung von Finanzbehörden in Hamburg. Brorhilker wollte herausfinden, warum das zuständige Hamburger Finanzamt von einer Cum-Ex-Bank zunächst eine Rückzahlung von 47 Millionen Euro forderte – und nach Bänkergesprächen mit dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) plötzlich darauf verzichtete. Ihre Vorgesetzten in Köln sahen jedoch keinen hinreichenden Verdacht für Straftaten."
»Kein hinreichender Verdacht für Straftaten« hört sich nach neuesten Erkenntnissen und aktuellsten Geschehnissen wie blanker Hohn an. Und es schränkt die möglichen Antworten auf die Frage, warum ein teflonbeschichteter SoziAal wie Scholz bis heute nicht für seine Vergehen zur Verantwortung gezogen wurde und wie er überhaupt Bundeskanzler werden konnte, auf nur eine treffende Antwort ein:
Unser Rechtsstaat funktioniert offenbar nicht mehr.
DeepThought_2022
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+++Nachtrag vom 22. August 2022+++
Im Eifer des Gefechts hatte ich völlig vergessen, nochmals gesondert auf den hochinteressanten Artikel »Unternehmens-Lobbyist als Hüter des Grundgesetzes?«, von Werner Rügemer (erschienen am 09. März 2020 auf den Nachdenkseiten) hinzuweisen. Die dort aufgezeigten Verflechtungen (nicht nur) von Harbarth, Merz, Schäuble & Co. zur internationalen Steuerkriminalität und letztlich auch zur Causa Cum-Ex lesen sich wie ein Wirtschaftskrimi und lassen einem buchstäblich die Haare zu Berge stehen.
Hier also nochmal der Link zu diesem Artikel, dessen Lektüre ich jedem empfehlen kann, der nähere Informationen zu dem Mann sucht, der mittlerweile (von Merkels Gnaden) dem höchsten deutschen Verfassungsorgan als Präsident vorsteht. Atemberaubend!