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»Wenn det enzische wat die Wessis von uns Ossis übernehmen der jrüne Pfeil an der Ampel is, dann schäiß isch uff die Wiedervereinischung« - so lautete (erinnerlich) der Kommentar einer unbekannten älteren Dame in einem Radiointerview Anfang der 1990er Jahre, welches ich im Auto hörte, als ich inmitten einer langen Trabbi-Kolonne frühmorgens zur Arbeit fuhr. Was die Dame wohl heute sagen würde (so sie denn noch lebt), würde mich mit Blick auf die zunehmend sozialistisch-totalitären Zustände im wiedervereinigten "besten Deutschland aller Zeiten" brennend interessieren.
Hätte sie damals geahnt, dass nicht nur der grüne Pfeil sondern auch die Ampel einmal politische Bedeutung erlangen würden, ihr Kommentar wäre mit Sicherheit noch deutlicher ausgefallen. Dass sich aber auch die Farbreihenfolge der Ampel einmal ändern würde, wäre ihr schlicht nicht in den Sinn gekommen.
Warum ich mich gerade jetzt an die Worte der alten Dame erinnere, liegt zum einen daran, dass mir seit geraumer Zeit ständig das Wort "Ampel" und in diesem Zusammenhang auch "Die Grünen" - also die Partei, die aus knapp 15% der Stimmen bei der Bundestagswahl einen Regierungsauftrag ableitet - im Kopf herumspuken, zum anderen an einem Artikel von Helmut Lück im Berliner Kurier vom 25.11.2020, über den ich kürzlich bei einer anderen Recherche gestolpert bin.
Als ich den Titel des Artikels las, hatte das zunächst folgenden verblüffenden Effekt: Die Worte der alten Dame waren schlagartig wieder in meinem Bewusstsein, als hätte ich sie erst gestern gehört. Beim Weiterlesen wurde mir schnell klar, welch perfekte Allegorie dieser Artikel für den abstrakten Begriff "Ampelkoalition" lieferte. Ich war so fasziniert (und inspiriert), dass ich mich sogleich hinsetzte, um das Thema grafisch zu verarbeiten (siehe Titelgrafik) und selbst ein paar Zeilen dazu zu schreiben. Um zu verstehen, was ich meine, hier nur ein paar kurze Auszüge des besagten Artikels (ich empfehle aber, diesen selbst in Gänze zu lesen - es lohnt sich!):
»Wissen wir eigentlich, warum die DDR den grünen Pfeil erfand? War das eine Lockerungsübung, Teil eines politischen „Tauwetters“? Schön wär‘s. Das Gegenteil ist richtig: Der grüne Pfeil bedeutete eine Einschränkung. Denn bei Rot rechts abbiegen durfte man in der DDR schon immer. Genau wie in den USA, ausgerechnet!«
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»Dabei hatte diese Straßenverkehrsordnung noch primär von der Verkehrsregelung durch Zeichengebung gehandelt und die Ampelfarben nur als Alternative erwähnt […].«
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»1978 änderte sich alles. Ab jetzt hieß es, dass „Fahrzeugführer bei Rot nach rechts abbiegen dürfen, wenn das durch einen zusätzlichen Pfeil angezeigt ist“. Nachzulesen in der StVO vom 26. Mai 1977, die zum 1. Januar 1978 in Kraft trat. Aber warum das Ganze? Die Sache ist genauso banal wie DDR-typisch: Die Sicherheitsleute an der „Protokollstrecke“ hatten Probleme.«
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»Protokollstrecke? Das meint jene Strecke, die von der Waldsiedlung Wandlitz, wo die DDR-Führung – streng bewacht und abgeschirmt – wohnte, ins Berliner Zentrum zum Gebäude des SED-Zentralkomitees führte. Diese Strecke wurden Erich Honecker und die andern SED-Politbüromitglieder täglich entlangchauffiert. An jeder Straßeneinmündung der Strecke standen Sicherheitskräfte, als Volkspolizisten getarnt. Sie konnten mit ihren Spezialschlüsseln in grauen Schaltkästen auf Dauer-Grün schalten, damit die langen schwarzen Volvos und der große Citroen von Honecker immer Vorfahrt hatten. Sie sollten schnell durchrauschen!«
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»Aber die Sache funktionierte schlecht. Man durfte ja bei Rot abbiegen! Da mussten die Leute vom Wachregiment "Feliks Dzierzynski" zusätzlich den Stab heben, um all die dampfenden Trabis an den einmündenden Straßen zurückzuhalten. Aber die Stimmung war schlecht, wurde immer schlechter. Bald setzte ein Hupkonzert ein, und dann war kein Halten mehr, die Autos fuhren einfach los. […] Diese Autos wimmelten dann auf der Protokollstrecke herum und nahmen der Staats-Kolonne den schönen Schwung.«
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»[…] Jedem war klar: So konnte es nicht weitergehen. Und mit dem grünen Pfeil war dann der Ausweg gefunden. Jetzt galt endlich: Rechts-Abbiegen nur noch mit Pfeil. Bald war der grüne Pfeil überall dran, nur nicht an den Einmündungen zur Protokollstrecke. […]«
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»[…] Angesichts des Mangels an allem, insbesondere an Material und Arbeitskräften, hätte eine solche Änderung nur wegen Verkehrsproblemen keine Chance gehabt. Da brauchte es eine politische Entscheidung. Die Verkehrsgründe kommen dann als schönes Argument hinzu.«
Wenn ich heute den metaphorischen Begriff "Ampelkoalition" genauer betrachte, wird der zugrundeliegende Vergleich mit einer Ampel dem Begriff nicht gerecht. Zumindest nicht - vom Vorhandensein der drei Farben mal abgesehen - bei der Farbreihenfolge. Warum der grüne Pfeil grün ist, darüber könnte man einen eigenen Artikel schreiben.
Hier noch mal der Link zum Originalartikel von Helmut Lück: https://www.berliner-kurier.de/berlin/der-gruene-pfeil-war-in-der-ddr-eine-einschraenkung-fuer-die-autofahrer-li.121384