Es war noch kein Jahr her, seit er alles verloren hatte, sein ganzes bisheriges Leben. Es ging Schlag auf Schlag und hat ihn völlig unerwartet getroffen. Er hatte die Anzeichen des drohenden Unheils einfach nicht erkannt, die schon länger wie Gewitterwolken am Horizont aufgezogen waren, Eitelkeit, Stolz und sein verdammtes Verantwortungsbewusstsein ließen ihn nicht wahrhaben wollen, dass es schon lange sinnlos gewesen war weiterzumachen, bis es eben zu spät gewesen war. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr, wie es einmal gewesen war. Die Firma - pleite, Geld, Haus, Auto, Freunde - weg, Frau und Kind auch. Als sie erfuhr, dass das Haus zwangsversteigert werden soll, war sie mit dem Kind am nächsten Tag einfach nicht mehr da. Eine Woche später erhielt er von einer Anwältin ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Er war nicht einmal überrascht, schon gar nicht enttäuscht. Er wusste nur zu gut, dass man im Leben für alles bald früher, bald später bezahlen musste. Er hatte schon längst damit begonnen gehabt tröstliche Lügen zu erfinden, Vodka aus Flaschen trinken, um sich über die Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte hinwegzuhelfen. „Wenn du gehen willst, dann geh!“, dachte er sich als er das Schreiben in seinen Händen hielt.
Als er aus dem Haus raus musste, kam er für ein paar Wochen bei einem Freund unter und zog danach in diese Wohnung, die ihm ein ehemaliger Geschäftsfreund großzügig kostenlos überließ. Als Gegenleistung sollte er sich als so eine Art Hausmeister um das Haus kümmern, in dem außer ihm noch zehn andere Parteien wohnten. Zimmer, Küche, Bad, das war jetzt seine Welt. Die Ersparnisse aufgebraucht, alles was ihm noch geblieben war und einen Wert hatte versetzt, lebte er von der Hand in den Mund und hielt sich mit kleineren Aushilfsjobs über Wasser, gab das meiste Geld für Alkohol, Zigaretten und hin wieder ein wenig Stoff aus. Die Zeit zwischen Hausflur reinigen, Rasen mähen, Glühbirnen wechseln, Mülltonnen auf die Straße stellen, Hecken schneiden, verstopfte Toiletten frei machen, Mieten einkassieren, Stromzähler ablesen verbrachte er mit Schreiben. Oft schrieb er Nächte durch, bis er, vollkommen zugekifft und betrunken, am Tisch einfach einschlief. Er war überzeugt am Tiefpunkt angelangt zu sein, verspürte aber keine Bitterkeit, im Gegenteil er war erleichtert. Er hatte nichts mehr zu verlieren, tiefer konnte er nicht mehr fallen, war er überzeugt. Er wusste das erste Mal in seinem Leben wo er hingehört, musste sich nicht mehr belügen, hatte aufgehört zu träumen was er nie war. Dieser Gedanke tröstete ihn, gab ihm sogar Sicherheit, denn jetzt konnte er endlich damit beginnen sein Leben einzurichten, ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, ohne Gefahr zu laufen, dass von einem Tag auf den anderen wieder alles anders sein werden könnte. Er war nicht mehr der Jüngste, aber da das Leben, das er bisher geführt hatte, ohnehin nicht das seine war, war er froh, dass es vorüber war, die ganze Heuchelei ein Ende hatte.
Menschen, die er von früher kannte, ging er nach Möglichkeit aus dem Weg. Er konnte ihr Mitleid nicht ertragen. Die Wohnung lag glücklicherweise am anderen Ende der Stadt, so dass es selten vorkam, dass ihm jemand über den Weg lief. Er vermisste keinen von denen und schon gar nichts von all dem, weswegen er vergessen hatte zu leben, weil er glaubte tun zu müssen, nur weil es die anderen, und sein Verantwortungsgefühl von ihm erwarteten.
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Die beiden einzigen mit denen er regelmäßig Kontakt hatte – „Guten Morgen, wie geht es Ihnen?“ „Danke, gut. Und Ihnen?“ - waren eine Frau, Ende zwanzig, Anfang dreißig, die mit ihrer Tochter in der Wohnung neben seiner lebte. Das Mädchen war vielleicht zwölf, vielleicht auch dreizehn, schätzte er. Hin und wieder bekamen die beiden Besuch, wie er im Laufe der Zeit mitbekam. Meistens Männer, am späteren Nachmittag, fast immer jedoch abends, manchmal, selten zwar, waren es auch Paare. Einer der Männer blieb sogar einmal übers Wochenende, aber er hatte ihn danach nie wieder im Haus gesehen.
Eines Morgens sprach ihn die Frau im Hausflur - er wusch den Boden auf - an, ob er nicht am Abend ein, zwei Stunden Zeit hätte, sich um die Kleine zu kümmern. Ohne nachzufragen warum, tat er ihr den Gefallen. Warum auch nicht?
„Kein Problem“, sagte er ihr zu. „Ich koche uns beiden etwas, und danach machen wir uns einen schönen Abend." Kochen, das war schon immer eine seiner großen Leidenschaften gewesen, allerdings hatte er, vor allem seit er alleine lebte, selten Lust dazu. Sie war einverstanden, küsste ihn sichtlich erleichtert, aber doch fast ängstlich, zärtlich auf die Wange - „Danke, Sie sind ein Schatz!“ - drehte sich um und eilte davon.
Er sah ihr nach, während sie den düsteren Gang entlang zur Türe trippelte, ihre sich im Rhythmus ihrer Schritte hin und her wiegenden Hüften, die straffen auf und ab hüpfenden Backen ihres Arsches – geil! -, sein Schwanz, hart und prall, zuckte ungeduldig wild hin und her, ließen ihn in Gedanken lustvoll wie ein Wolf aufheulen. Als sie kurz bevor sie durch die Haustüre aus seinem Blick verschwand, die rechte Hand hob und ihm, ohne sich umzudrehen, zum Abschied winkte, atmete er enttäuscht seufzend, tief durch.
Einige Zeit später erfuhr er von ihr, dass die Kleine große Schwierigkeiten in der Schule hat, sie dringend Hilfe brauche, wenn sie die Klasse noch schaffen wollte, und sie absolut nicht wisse, was sie tun sollte. Er bot ihr von sich aus an, mit der Kleinen zu lernen, Zeit dafür hatte er ohnehin genug, außerdem dachte er sich: "Sie gefällt mir", zu ihr sagte er: "Sagen Sie ihr, sie soll morgen nach der Schule zu mir kommen, da besprechen wir dann alles."
Ab da kam die Kleine jeden zweiten Tag am frühen Nachmittag zu ihm, um zu lernen, immer öfter aber auch Tagen, an denen sie gar nicht verabredet waren, einfach so, um mit ihm Zeit zu verbringen. Sie kam oft direkt nach der Schule zu ihm und blieb bis zum Abend. Sie aßen gemeinsam, hatte viel Spaß zusammen, sie erzählte ihm gerne und viel über sich, dass sie ihren Vater nie kennengelernt hatte, ihre Mutter hatte ihr gesagt, er wolle keinen Kontakt zu ihr, sie kein Interesse an gleichaltrigen Jungs hätte, die für sie alle Langeweiler und blöd wären, ihre Mutter sie auch schon mal geschlagen hätte und überhaupt sie beide nicht miteinander klar kommen würden. Die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, tat ihr sichtlich gut. Sie war meist gut gelaunt und fröhlich, wenn sie bei ihm war.
Er erzählte ihr von seinen Geschichten, die er geschrieben hatte. Sie bat ihn sie lesen zu dürfen und zu seiner eigenen Überraschung, war er damit einverstanden.
"Warum sind deine Geschichten so traurig?", wollte sie wissen und setzte nach: "Die Menschen in deinen Geschichten haben keine Träume, sind so furchtbar einsam, ohne Hoffnung, ohne Liebe. Warum?"
"Gute Frage. Ich weiß es selbst nicht. Ich habe auch keine Erklärung dafür. Ich versuche zu schreiben was ich fühle und denke, beschreibe einfach was rund um mich herum geschieht. Vielleicht sind alle, über die ich in meinen Geschichten schreibe, ich. Wer weiß? Hättest du nicht Lust selbst einmal eine Geschichte zu schreiben?"
"Ich? Ich weiß nicht. Ich denke, ich kann das nicht."
"Versuche es doch einfach. Setzt dich hin und schreib auf, was dir durch den Kopf geht, was dich beschäftigt, ohne an das Wie oder Weshalb zu denken. Einverstanden?"
"Mal sehen, vielleicht. Aber du musst mir versprechen nicht zu lachen, wenn du es einmal lesen solltest. Versprochen?"
"Versprochen", sagte er feierlich und gab ihr zur Bekräftigung die Hand und hob die andere wie zum Schwur. Als er ihre Hand in seiner spürte, durchströmte ein Zittern seinen Körper, sein Herz schnellte hoch, pochte im Hals, sein Schwanz stand fest und hart. Aus Furcht sie könnte bemerken, was er fühlte, ließ er ihre Hand sofort wieder los.
Die Nachmittage mit der Kleinen waren ihm eine liebgewordene Gewohnheit geworden. Er fühlte sich wohl, wenn sie bei ihm war. Sich mit ihr zu beschäftigen lenkte ihn ab und ließ ihn immer öfter vergessen, dass er sein eigenes Kind schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
Eines Tages frug sie ihn, während sie schrieb, ohne aufzublicken, mit gerötetem Gesicht und glühenden Ohren, aus heiterem Himmel: „Wie weiß man eigentlich, dass man verliebt ist?“
„Du stellst Fragen. Wie kommst du darauf? Hast du jemanden kennengelernt?“
„Nein. Ich will nur wissen, woran man erkennen kann, dass jemand verliebt ist. Das ist alles.“
„Ja, das erkennt man leicht, ist aber schwer zu beschreiben, weißt du. Wenn Augen wie Sterne leuchten, der Puls rast, das Herz im Hals schlägt und das Blut in den Ohren singen lässt, Blicke den Atem nehmen, Berührungen ein Beben auslösen, die Zeit plötzlich stehen bleibt, Träume in den Tag hinein andauern, Angst und Zweifel einen in den Wahnsinn treiben, dann glaube ich, ist man verliebt. So genau weiß ich das aber auch nicht“, und fügte noch schnell hinzu: „Ist schon eine ganze Weile her, dass ich das letzte Mal verliebt war“.
„Alles klar, verstehe!“, war alles was sie dazu sagte.