Folgenden Text habe ich am Montag beim VfGH-Portier abgegeben:
An den Verfassungsgerichtshof
Betrifft: Antrag auf Aufhebung des Bundespräsidentenwahlgesetzes als Erweiterung der Anfechtung des Zweiten Wahlgangs bzw. dahingehende Anregung
Laut Judikatur des österreichischen VfGHs sind Wahlsysteme zu beurteilen im Zusammenspiel aller ihrer Komponenten. Auf die Frage, ob ein Parteiensystem oder ein Kandidatensystem eine dieser Komponenten darstellt, ist der VfGH bisher nicht eingegangen, wenn ich mich recht erinnere.
Das österreichische Bundespräsidentenwahlsystem (Zwei Wahlgänge, Einstimmenwahl ohne Reihungswahl oder Präferenzwahl) scheint maßgeschneidert zu sein für das Zwei- bis Zweieinhalbparteiensystem (47% SPÖ, 47% ÖVP, 6% FPÖ), das Österreich bis Mitte der 80er Jahre hatte. In den 80er Jahren gab es zwei Ereignisse, die das Parteiensystem verändern sollten: die Entstehung der Grünen und den Aufstieg der FPÖ zu einer Mittel- bzw. Großpartei. Ganz abgesehen davon entspricht die Entwicklung zu einem Vielparteiensystem der Normalität, im internationalen Vergleich stellt Österreich einen Spätentwickler dar, was die Entwicklung zu einem Vielparteiensystem bei Verhältniswahlrecht betrifft. In der internationalen Politikwissenschaft sprach man vom „anomalous Austria“, dem abnormalen Österreich, weil es der einzige Fall war eines Zwei- bzw. Zweieinhalbparteiensystems trotz Verhältniswahlrecht. D.h. der Abstieg der Großparteien und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass früher oder später ein Fall einer Bundespräsidentschaftswahl auftreten würde mit mehr als drei Kandidaten, die Chancen haben, in die Stichwahl zu kommen, war vorhersehbar, auch wenn die Großparteien hofften bzw. hoffen, zu einem Zwei- bzw. Zweieinhalbparteiensystem zurückkehren zu können, wie Österreich es bis 1985 hatte. Bei mehr als drei chancenreichen Kandidaten entsteht – wie geschrieben – die Problematik des taktischen Wählens mit der damit verbundenen Problematik der „Irrtumsbewirkung“.
Man kann es so sehen, dass der österreichische Gesetzgeber schon bisher eine 30-jährige Reparaturfrist hatte, um das Präsidentenwahlgesetz der geänderten Parteienlandschaft anzupassen, aber nicht innerhalb dieser 30-jährigen Reparaturfrist handelte.
Als Kriterium für die Güte von Wahlsystemen könnte man also auch die Gegenwartstauglichkeit, bzw. Zukunftstauglichkeit machen. Ein Wahlsystem, das hoffnungslos vergangenheitsverhaftet ist, kann rechtlich problematisch betrachtet werden.
Das führt uns zu Kriterium 1 für demokratische Wahlen: Wahlsysteme müssen dem Parteiensystem bzw. dem Kandidatensystem entsprechen. Die meisten chancenreichen Kandidaten bzw. –innen bei dieser Wahl (mit Ausnahme von Griss) sind klassische Vertreter der Parteipolitik.
Kriterium 2 wäre die Resistenz / Widerstandsfähigkeit gegen das, was man in der Sprache von §263 StGB „Täuschung bei einer Wahl“ (der sich laut §261 explizit auch auf die Bundespräsidentenwahl bezieht) als „Irrtumsbewirkung“ bezeichnen könnte, wobei bei diesem Paragraphen offen bleibt, ob absichtlich oder fahrlässig; weder ist explizit von „… absichtlich bewirkt …“ noch von „… fahrlässig bewirkt …“ noch von „… fahrlässig oder absichtlich bewirkt …“ die Rede, sondern nur von einem eigenschaftswortlosen „..bewirkt..“. Gerade, wenn es um große Medien geht, die riesige Rechtsabteilungen haben, ist fahrlässiges Bewirken eher unwahrscheinlich.
Es gibt einen Trend zur Zunahme von Kandidierenden seit 1945, der mit der Pluralisierung der Parteienlandschaft zusammenhängen dürfte. Der springende Punkt: wenn mehr als drei Kandidierende eine Chance auf den Einzug in die Stichwahl haben (und das war wohl 2016 erstmals der fall, hätte aber schon früher der Fall sein können), entsteht ein neues Phänomen: das taktische Wählen. Taktisches Wählen bedeutet, dass Wähler folgende Überlegung zur Basis ihrer Wahlentscheidung machen: „Ich würde ja am liebsten X wählen, aber weil Medien und Umfrageinstitute und Wahlkampfteams sagen bzw. schreiben, dass X keine Chance hat, in die Stichwahl bzw. den zweiten Wahlgang zu kommen, wähle ich stattdessen Y oder Z.“ Wenn Meinungsumfragen zuverlässig wären, dann wäre das kein Problem. Wenn ihre Schwankungsbreiten korrekt ausgewiesen würden, wäre das ein geringeres Problem. Aber die Schwankungsbreiten werden oft viel zu niedrig angegeben, aus Platz- und Kostengründen, und weil niemand sich für Meinungsumfragen interessieren würde, wenn die Schwankungsbreiten korrekt angegeben würden. Bei politischen Meinungsumfragen kommt das Problem der Deklarierungsbereitschaft und der Deklarierungsbereitschaftsschwankung zur rein mathematischen Schwankungsbreite hinzu, und oft wird nur die rein mathematische Schwankungsbreite ausgewiesen, aber die zusätzliche politische, die bei Stigmatisierungsprozessen hoch sein kann, nicht.
In anderen Demokratien sind übrigens Veröffentlichungen von Meinungsumfragen z.B. in den letzten 4 Wochen vor einer Wahl verboten, und zwar wegen der „irrtumsbewirkenden“ Effekts. Die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz von Meinungsumfragenverbotsgesetzen direkt vor der Wahl ist meiner Meinung nach eine Komponente des Wahlsystems. Und ein Wahlsystem, das einerseits anfällig ist für absichtliche oder fahrlässige Irrtumsbewirkung durch Meinungsumfragen und andererseits kein Meinungsumfragenverbot direkt vor der Wahl enthält, kann man als Verstoß gegen §1-B-VG betrachten: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Wenn nicht mehr die Wähler und –innen Wahlen entscheiden, sondern die Medien, Umfrageinstitute und Wahlkampfteams, indem sie irrendes taktisches Wählen bewirken, dann scheint die Realverfassung eher zu lauten „Österreich ist eine Medien-Umfrageinstitutsgeleitete königslose Staatsform. Ihr Recht geht von Medien und Umfrageinstituten aus.“
Meinungsumfragepublikationserlaubnis kurz vor der Wahl kann unter Umständen demokratiekonform sein: wenn zum Beispiel so wenige Kandidaten existieren, dass taktisches Wählen irregeführt durch Umfragen gar nicht entstehen kann; oder wenn ein Wahlsystem existiert, das überhaupt immun ist gegen Irrtumsbewirkung; wie z.B. Reihungswahlsysteme.
Reihungswahlen oder Präferenzwahlen bedeuten, dass man nicht seine Stimme einem Kandidaten bzw. einer Kandidatin gibt (aus welchen Gründen auch immer: dem Liebling oder dem liebsten als chancenreich ausgewiesenen), sondern dass man Kandidaten reiht und Präferenzlisten erstellt: „Am liebsten ist mir A, am zweitliebsten B, am drittliebsten C, etc.“ Die Frage, ob man seinen Lieblingskandidaten nicht wählt, weil Meinungsumfrageinstitute ihn bzw. sie als chancenlos für den Zweiten Wahlgang ausweisen, stellt sich dann gar nicht, weil man seinen Lieblingskandidaten erstreihen kann, trotz angeblich durch Meinungsumfragen ausgewiesener Chancenlosigkeit, und zusätzlich weitere Präferenzen ausdrücken kann. Ob dann Stimmentransfermechanismen (a la irischem Single transferable vote) angewandt werden, oder das Schulze-Verfahren oder ein Borda-Verfahren mit Punktevergabe (ähnlich dem Eurovision Song Contest): z.B. Vier Punkte für den Erstgereihten, drei für den Zweitgereihten, zwei für den Drittgereihten, einen für den Viertgereihten, Null für alle weiteren, mag geringe Unterschiede machen in Hinsicht auf Immunität gegenüber Irrtumsbewirkung, aber es dürften alle besser sein als Bestehende.
Um den Unterschied zwischen einem Einstimmenwahlrecht und einem Reihungswahlrecht anhand eines mathematischen Modells zu demonstrieren, verweise ich auch auf meinen Blog „Unser extremismusförderndes und manipulationsanfälliges Wahlsystem“ auf der Internetplattform Fisch und Fleisch. Unter einem Condorcet-Sieger versteht man in der Wahlsystemlehre einen Kandidaten, bzw. eine Kandidatin, die bzw. der alle hypothetischen Stichwahlen gewinnt. Bei mehr als drei Kandidaten können herkömmliche Wahlsysteme wie das österreichische Präsidentenwahlsystem sehr fehleranfällig werden, insofern, als die Chancen von Condorcet-Siegern, in die Stichwahl zu kommen, rapide sinken können. Reihungswahlen, bei denen Wähler Präferenzen angeben (vom liebsten zum unliebsten Kandidaten), haben je nach Typ eine höhere (in manchen Fällen hundertprozentige) Wahrscheinlichkeit, etwaige Condorcet-Sieger zu Wahlsiegern bzw. zu Stichwahlteilnehmern zu machen. Es ist übrigens möglich, ohne eine einzige Erstreihung, nur mit Zweit- und Drittreihungen Condorcet-Sieger zu werden. Da beim Einstimmenwahlrecht alle weiteren Reihungen wegfallen, haben Vertreter politischer Extreme, die vom jeweils anderen Extrem am stärksten abgelehnt werden und daher die meisten Letztreihungen haben, beim Einstimmenwahlrecht bessere Chancen als beim Reihungswahlrecht. Umgekehrt haben Vertreter der politischen Mitte oft wenig Erstreihungen, aber viele Zweit- und Drittreihungen. Ein Einstimmenwahlrecht begünstigt daher politische Extreme, und ist so gesehen nicht oder weniger geeignet, einen Sieger hervorzubringen, der das ganze Volk repräsentiert, oder um es in der Sprache des ehemaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger zu sagen, „ein Bundespräsident für alle Österreicher zu sein“. In verschiedenen Gesetzen (z.B. was die Vertretung nach Außen betrifft), ist davon die Rede, dass der Bundespräsident Österreich vertritt, bzw. die Republik vertritt. Ein Bundespräsident, der von einer Partei kommt, die ein politisches Extrem darstellt (und in der Migrationsfrage sind Grüne und Freiheitliche, die ihre Kandidaten fragwürdigerweise in die Stichwahl brachten, Extrempositionen), ist für die Vertretung ganz Österreichs bzw. der ganzen Republik ungeeigneter als ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der politischen Mitte. So gesehen sind Reihungswahlsysteme, die die politische Mitte begünstigen, gegenüber Einstimmensystemen, die die politischen Extreme begünstigen, bei der Wahl eines monokratischen Organs zu bevorzugen.
Auch konsensdemokratische Bundespräsidentenwahlgesetze, die die Präsidentschaft als Kollektivorgan vorsehen, ähnlich wie in der Schweiz, entweder direkt im Rotationsprinzip von Vertretern der drei bis fünf (in der Schweiz: vier) stimmenstärksten Parteien, oder in einem Wahlgang, nach dem die drei bis fünf stimmenstärksten (oder z.B. reihungswahl-punktestärksten) Kandidierenden im Kollektiv die Präsidentenfunktionen ausüben, sind immun in Hinsicht auf irrtumsbewirkendes, taktisches Wählen in Hinsicht auf den Zweiten Wahlgang, weil es keinen zweiten Wahlgang gibt.
Kollektivorgan Staatsoberhaupt hieße auch, dass das Volk als ganzes besser und breiter repräsentiert ist.
Die Frage der Manipulationsanfälligkeit von Wahlsystemen spielt auch eine Rolle für die Vertrauenswürdigkeit. Wahlen, denen nicht oder nur schwer vertraut werden kann, lösen viele der Probleme nicht, die sie lösen sollten.
Auch klimatische Dinge und Wahlkampfpolarisation können eine Rolle spielen für die Qualität von Wahlen. Wie zu befürchten war, haben sich im ersten Wahlgang im österreichischen Präsidentschaftswahlsystem (ohne Reihungswahlen) die Kandidaten durchgesetzt, die Extrempositionen in der Frage der Zuwanderung bezogen, was in Folge zu einer Polarisierung führte. Diese Polarisierung kann auch abfärben auf Wahlbeisitzer, die nicht nur Vertreter ihrer Parteien, sondern auch Opfer des medialen Systems und des Wahlkampfs sind. Bei starker Wahlkampfpolarisation ist die Manipulation von Wahlen durch Wahlbeisitzer wahrscheinlicher; so gesehen sind konsensdemokratische Wahlsysteme wie Allparteienregierungen (in den Bundesländern existieren noch Beispiele dafür) konfliktdemokratischen (in denen das 51ste Prozent allesentscheidend ist) vorzuziehen. Wenn auch es schwer ist, dafür eine Grenze für VfGH-Entscheidungen zu ziehen.
Der Kampf um das 51ste Prozent kann alle Parteien brutalisieren, und die Stichwahl, d.h. der zweite Wahlgang, ist ein solcher Kampf um das 51ste Prozent.
Auf jeden Fall glaube ich, dass in Hinsicht auf Irrtumsbewirkungsanfälligkeit, Nicht-Zusammenpassen mit dem seit 1985 geänderten Parteiensystem und Wahlkampfpolarisierung das österreichische Bundespräsidentenwahlgesetz genügend rechtliche Problematiken für eine Aufhebung hat.
Es passiert manchmal, dass Gerichte ihren Prüfungsbereich selbständig erweitern, und mein Schreiben kann als dahingehende Anregung verstanden werden.
Dieter Knoflach
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1030 Wien