Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, 1974-1982) meinte einmal sinngemäß: "In so mancher Krise muss man Verträge, Gesetze und Konventionen brechen und sich durchwurschteln und am Ende muss was Gutes herauskommen"
Praktiziert hat er das mehrfach, zum Beispiel in der Überschwemmungskatastrophe in Hamburg 1962 als Innensenator der Stadt, zum Beispiel bei der Entführung des Lufthansa-Flugzeugs "Landshut" durch palästinensische Terroristen nach Mogadischu, als er entschied, die eigentlich unzuständige GSG-9 (Grenzschutzgruppe 9) nach Mogadischu zu schicken, falls Verhandlungen scheitern und ein Gefecht unvermeidlich wird (das dann tatsächlich unvermeidbar wurde, und zugunsten der GSG-9 und zuungunsten der Palästinenser ausging).
Auch in der Finanzkrise 2008 plädierte er sehr offen dafür, es mit den Verträgen in Anbetracht der Krise nicht so ernst zu nehmen, sondern zu pragmatischen Lösungen zu kommen.
Aber zurück zur neuen Krise an der Grenze zwischen der Türkei und der EU:
aus einer irgendwie gearteten Unzufriedenheit mit dem geltenden Asylrecht und aus einer Unzufriedenheit mit den diesbezüglichen Konzeptionen aller Parteien hatte ich schon seit vielen Jahren ein Konzept in der Schublade, das eine ziemlich radikale Alternative dazu darstellt:
es sieht nicht ein Recht für Individuen vor, bei Staaten um Asyl anzusuchen, sondern eine Pflicht für die Staaten, aktiv in Krisenregionen nach Asylberechtigten oder potenziell Asylberechtigten zu suchen und diese zu evakuieren.
So etwas müsste natürlich verbunden sein mit Inspektions- und Prüfrechten.
In der konkreten Situation hiesse das folgendes: Erdogan müsste der EU oder den einzelnen EU-Staaten Inspektions- und Prüfrechte für das türkische Landesgebiet, bzw. die Regionen, in denen die zu prüfenden Personen leben, einräumen.
Und EU-Instititionen bzw. EU-Staaten-Institutionen prüfen an Ort und Stelle, machen eine Vorauswahl und eine Art Asylvorverfahren an Ort und Stelle.
Und hinterher werden die vorläufig Asylaussichtigen ausgeflogen in die EU.
Das Ganze kann auch überwacht, überprüft und kontrolliert werden von der UNO, die mitzählt, welcher Staat oder welche Union wieviele Asylaussichtige außer Landes bringt.
Das hätte die Vorteile, dass
.) erstens nicht Erdogan aussucht, welche Leute er in die EU vertreibt, sondern, dass die EU bzw. die einzelnen EU-Staaten aussuchen, welche Leute sie holen (teilweise nur vorübergehend, falls die vertiefende Prüfung negativ ausfällt).
.) zweitens die EU bzw. die EU-Staaten sowohl eine prinzipielle Hilfsbereitschaft als auch eine gewisse Skepsis gegenüber Erdogan zeigt (was für weitere innertürkische Entwicklungen wie Wahlen wichtig sein kann).
.) drittens die Verursachung von Flüchtlingswellen aus Gründen der Erpressung schwierig bis unmöglich wird.
.) viertens die Anwesenheit von EU-Personen oder EU-Staaten-Personen und UNO-Personen (egal, ob Militär, Beamte, Polizisten, etc.) auch ein kultureller Austausch wäre, und zahlreichen Türken und Türkinnen zeigen könnte, dass es noch eine andere Welt gibt als die Erdogan-islamistische. Hier würde die Asylantenholpflicht der Staaten eine ähnliche Rolle spielen wie der Handel beim Prinzip "Wandel durch Handel", bei dem Handel nicht nur Austausch von Gütern, sondern auch Kontakt von Personen und neue Vergleichsmöglichkeit verschiedener Kulturen ist.
.) fünftens würde es den Propheten-Effekt verhindern, dass Erdogan die Grenzschliessung durch die EU als Bestätigung seiner "EG/EU ist ein Christenklub, der Muslime ausgrenzt"-Aussage aus dem Jahr 1997 verkaufen kann und damit im Wahlkampf punkten kann.
.) sechstens würde es den Asylantenholenden Staaten ermöglichen, das kulturelle Passen der Asylanten zu ihrer Kultur ein bisserl in den Auswahlprozess einfliessen zu lassen, statt gezwungen zu sein, diejenigen Menschen (z.B. Kriminelle) zu nehmen, die Erdogan loswerden will.
Falls man das in der konkreten Situation tut, wäre das wohl streng genommen rechtswidrig, weil zahlreiche Konventionen zwar Ausstiegsmöglichkeiten vorsehen, aber mit z.B. einjährigen Kündigungsfristen.
Aber im weiteren Sinn würde es die Asylidee fortsetzen, aber auf eine andere Art umsetzen, so gesehen wäre es aus Sicht des Geists hinter dem Asylrecht kein Vertragsbruch.
Aber wie schon Helmut Schmidt sagte: in der Krise muss man Verträge brechen und sich irgendwie durchwurschteln ....
Die ganze Debatte der letzten Tage dreht sich rund um den Sager von Sebastian Kurz "Wir dürfen nicht Erdogans Spiel spielen". Seither dreht sich die Debatte darum, ob wir nun weiterhin aufnehmen, oder eben das Erdogan-Spiel nicht spielen, nach der Fasson von Kurz, Sobotka und der FPÖ.
Aber offensichtlich hat niemand erkannt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, NICHT Erdogans Spiel zu spielen.
Eine defensivere (EU-Grenzen zur Türkei dicht, Griechenland unterstützen) und eine offensivere (Aufnahmeangebot nach Asylantenholpflicht im Prinzip ja, aber nicht zu den Bedingungen von Erdogan).
Und gerade das könnte ja Gegenstand von Verhandlungen zwischen EU oder EU-Staaten und der Türkei sein.
Gewürzt werden könnten diese Verhandlungen durch Androhung oder Einsatz von Wirtschaftssanktionen oder Militäreinsatz.
Und man könnte auch ein Recht auf militärischen Regime Change, entfernt so ähnlich wie im Irak 2003, als Zusatz in die UN-Charta aufnehmen, falls ein internationaler Gerichtshof krassen Asylmißbrauch durch einen Staat, z.B. für Erpressung feststellt.
CC / Schafgans https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Schmidt#/media/Datei:Bundeskanzler_Helmut_Schmidt.jpg
Früherer deutscher Bundeskanzler Helmut Schmidt: in Krisenzeiten Verträge brechen, um ihren Geist und ihr Ziel zu bewahren ?
Siehe auch: