Das Wien-Wahljahr beginnt für die SPÖ mit gleich mehreren Streitigkeiten und Zerfallsproblemen:

erstens einmal gab es einen Streit rund um die Mitgliederbefragung, ob SPÖ-Parteivorsitzende Rendi-Wagner bleiben soll oder nicht.

Insbesondere der Wiener Bürgermeister Ludwig legte sich in Krone-Interviews fest, dass sie nach der Befragung wohl zurücktreten müsse.

Die von den innerparteilichen Rendi-Gegnern vorgebrachte Behauptung, dass die Befragung den Wien-Wahlkampf störe, ist unplausibel, weil die Befragung am 2. April endet, hingegen die Wahlen Anfang Oktober sind.

Und jetzt tritt auch noch die SPÖ-Bezirksvorsteherin des Bezirks Margareten aus der SPÖ aus. Sie kritisiert die eigene Partei dafür, rückwärtsgewandt und verlogen zu sein und dafür, Fundamentalopposition zu betreiben.

So hätten SPÖ-Bezirksräte auf Befehl von Bürgermeister Ludwig gegen Fahrradabstellplätze stimmen müssen, obwohl sie persönlich sie befürwortet hätten, weil andere Parteien sie vorgeschlagen hätten.

Diese unter "Clubzwang" bekannten Phänomene sind in Österreich eigentlich aufgrund des Bundes-Verfassungsgesetztes (B-VG) für den Nationalrat verboten, obwohl sie auch im Nationalrat vorkommen. Die Zahl derjenigen Stimmen, die bei Abstimmungen im österreichischen Parlament gegen die Linie der eigenen Partei erfolgen, liegt bei ca. 0,01%, während sie im US-Repräsentantenhaus bei ca. 20% liegt.

https://kurier.at/chronik/wien/bezirksvorsteherein-von-margareten-verlaesst-die-spoe/400764360

Zum Vorwurf der Verlogenheit der SPÖ passt auch die Strategie für den Wien-Wahlkampf: durch Verhinderung der Rendi-Wagner-Verbleibs-Mitgliederbefragung solle den Doskozil-Anhängern suggeriert werden, er würde bald Parteichef werden, hingegen gleichzeitig den Rendi-Wagner-Anhängerinnen suggeriert werden, es werde Rendi-Wagner noch lange Parteichefin werden.

Diese "zielgruppenorientierte Public Relation" ist eigentlich in den USA gebräuchlicher, wo es aufgrund des Mehrheitswahlrechts nur zwei Parteien gibt, die unterschiedlichste Wählergruppen ansprechen müssen. Aber in Mitteleuropa gilt das Verhältniswahlrecht, das eine starke Tendenz zum Vielparteiensystem hat und derartige zielgruppenorientierte Public Relations, die man auch als verlogen und politikverdrossenheit-erhöhend betrachten kann, eigentlich nicht braucht.

Es mag sein, dass der vielfache Einsatz US-amerikanischer Spin-Doctoren durch die SPÖ (von Greenberg bis Silberstein) zu kulturfremden und wahlsystemunvereinbaren Politiken in der SPÖ führten, die der SPÖ mehr schadeten als nutzten.

Für die kommende Wien-Wahl bedeutet das Alles für die SPÖ Wien wohl nichts Gutes.

Der US-amerikanische Politikwissenschafter J.J. Mearsheimer von der Universität Chicago schrieb einmal ein Buch mit dem Titel "Why leaders lie" (Wörtlich: Warum politische Führer lügen; deutschsprachige Übersetzung: "Vom Wert der Unwahrheit" )

Darin beschäftigt er sich als Professor für internationale Beziehung zwar eher mit der Aussenpolitik, aber manche Regeln und Zusammenhänge gelten auch für die Innenpolitik, beispielsweise seine These, dass Lügen besonders häufig sind, wenn die Wählerinnen und Wähler nicht bescheid wissen und keine Kenntnisse haben.

CC / http://mearsheimer.uchicago.edu/images/jjm-photos/jjm04-2228x2782.jpg https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/10/John_Mearsheimer.jpg

John Mearsheimers Politiklügentheorie: eigentlich aussenpolitisch gemeint, aber auch auf die Wiener Kommunalpolitik übertragbar ?

Man kann vermuten, dass Lügen und Clubzwangphänomene umso stärker werden, je größer die Einheit ist, weil das einzelne Individuum umso ohnmächtiger wird, je größer die politische Einheit wird. Demgemäß müsste Wien die verlogenste und von Clubzwang am stärksten geprägte Gemeinde in Österreich sein.

Dazu passt auch, dass in Gemeinderäten wie dem Innsbrucker oder dem Grazer doppelt soviele Parteien vertreten sind wie in Wien. Dazu passt auch, dass es einzig und alleine in Wien eine Fünfprozenthürde gibt, die es in den Landeshauptstädten nicht gibt, und die es Einzelpersonen oder kleineren Gruppen und Parteien praktisch unmöglich macht, in den Gemeinderat zu kommen. Zahlreiche Parteien (z.B. die Piratenpartei) schafften den Einzug in den Innsbrucker oder Grazer Gemeinderat, aber nicht in den Wiener Gemeinderat.

Das ist möglicherweise auch verfassungswidrig. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat nach der Bundestagswahl 2013, bei der sich 15.2% unwirksame Stimmen (also Stimmen für Parteien unter der Fünfprozenthürde) ergaben, die Fünfprozenthürde für die EU-Wahl als verfassungswidrig erklärt, weil dadurch kleineren Parteien die Möglichkeit geraubt würde, in einem der vielen Parlamente vertreten zu sein.

Eine derartige Aufhebung der Fünfprozenthürde bei der österreichischen EU-Wahl ist sinnlos, weil alleine aufgrund der Kleinheit der Vertretung Österreichs mit 19 Abgeordneten die natürliche Hürde bei 1/19 = 5.2% liegt.

Und weil eine Aufhebung der EU-Wahl-Fünfprozenthürde in Österreich keinen Sinn macht, müsste in Österreich stattdessen die Wiener Fünfprozenthürde als verfassungswidrig eingestuft werden, um kleineren Gruppen und Kleinparteien die Möglichkeit zu geben, in einem der vielen Parlamente vertreten zu sein.

Zur Theorie, dass kleine Gemeinderäte pluralistischer und demokratischer sind, passt auch die "Small ist beautiful"-Ideologie des Salzburger Philosophen Leopold Kohr, der vielleicht gerade aus einem österreichischen Frust mit Wien heraus Dezentralisierung, kleine Strukturen und Föderalismus propagierte und dafür den Right Livelyhood Award, den Alternativen Nobelpreis, bekam.

Dem entspräche auch, insbesondere die großen Staaten in Europa zu zerlegen in ein Europa der Regionen; ein Modell dafür hier:

CC / Domie https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_Kohr#/media/Datei:Heinekenwesseling.jpg

Wenn alle Staaten in Europa etwa gleichgroß wären, dann würde auch die Fokussierung von Medien und Politik auf die Großmächte (z.B. die sogenannte "deutsch-französische Achse" ) wegfallen, und eine demokratische Gleichberechtigung aller Bürger herrschen.

Hier ein Link zur Leopold-Kohr-Akademie:

https://www.tauriska.at/kohr/

Zum "freien Mandat" laut Verfassung (B-VG):

"Artikel 56.

(1) Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden."

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