Verschweigende Elite ? Wie man Diebstahl behauptet, ohne das Gestohlene zu benennen .....
Betrifft: Daniel Cohn-Bendit (DCB), „Das ist der politische Diebstahl des Jahrhunderts“, "Die Welt", 12.7.2016
„Macht neigt dazu, zu korrumpieren, und absolute Macht neigt dazu, absolut zu korrumpieren“ (Lord John Acton)
DCBs Fehler sind offensichtlich:
.) Fehleinschätzung in Sachen Brexit. Er hielt eine Brexit-Mehrheit für unmöglich.
.) er glaubt an Meinungsumfragen. Beim ersten Wahlgang der österreichischen Präsidentschaftswahlen hatten wir Fehler bei Meinungsumfragen von bis zu 16%, was mit der mangelnden Deklarierungsbereitschaft der FPÖ-Wähler zusammenhängen dürfte, die von den politischen Gegnern geächtet sind. Die Umfragen, die DCB zitiert, sind zudem teilweise fragwürdig: dass das britische Pfund durch Brexit abwertete, dürfte die britische Wirtschaft ankurbeln, und für Finnland den Anreiz erhöhen, die Eurozone zu verlassen. Die „Willkommenskultur“, die zum Brexit beigetragen haben dürfte, wurde von den Grünen nicht nur begrüßt, sondern sogar für „alternativlos“ (Joschka Fischer) erklärt, obwohl die Alternativlosigkeit ein Markenzeichen der Diktatur ist, nicht der demokratischen Wahlfreiheit. Anders als DCB behauptet, richtete sich die Brexit-Kampagne unter Anderem sowohl gegen osteuropäische Billigarbeiter als auch gegen außereuropäische Flüchtlingswellen. Dass Merkel Erdogan durch ihren Vorwahlbesuch zur absoluten Mehrheit verhalf und ihm durch den EU-Türkei-Deal Unverzichtbarkeit signalisiert wurde, hat zur Entwicklung der Türkei Richtung Diktatur beschleunigt bzw. ermöglicht.
.) das Schlimmste sei Stillstand, und der verrückteste Fortschritt besser als Stillstand.
.) das Gerede von der positiven Vision Europas. Gerade die Visionen in der fernen Zukunft und die Unfähigkeit der EU, aktuelle Probleme zu lösen, tragen zu EU-Krise und Brexit-ähnlichen Phänomenen bei.
.) das Abgehen vom gleichen Wahlrecht und die Forderung nach einer transeuropäischen Liste. Ich habe schon vor vier Jahren prognostiziert, dass derartige Wahlrechte, die – in der Hoffnung, europäischen Diskurs voranzutreiben - das gleiche Wahlrecht verletzen, wie nach dem Vorschlag des britischen Liberaldemokraten Andrew Duff oder der österreichischen Piratenpartei, kontraproduktiv sein werden, den Proeuropäern schaden werden und den EU-Gegnern nutzen. Und genau das ist passiert: Duff wurde mitsamt seinen britischen Liberaldemokraten geradezu vernichtet (Verlust von 10 der 11 Abgeordneten bei der letzten EU-Wahl), und durch die UKIP verdrängt. Wieviel Anteil Duffs Wahlrechtsvorschlag am Brexit hatte, müsste man noch eruieren. Homepages mit Duffs Wahlrechtsvorschlägen wurden übrigens wie bei Orwells „1984“ nachträglich aus der Geschichte gelöscht. Die öst. Piratenpartei erzielte bei den Parlamentswahlen mickrige 0,7%, während die FPÖ groß abräumte. Auch hier dürften gutgemeinte, aber gleichheitswidrige Wahlsysteme der PPÖ mit ein Grund gewesen sein. Prophetenschicksal bedeutet, dass niemand eine Warnung glaubt, bis sie tatsächlich eintritt.
Das Fehlen des gleichen Wahlrechts in Artikel 14 EU-Vertrag ist eines der Demokratiedefizite der EU. Dieses ermöglicht zwar rein juristisch Formen des ungleichen Wahlrechts, aber dennoch stößt dieses ungleiche Wahlrecht bei vielen Wählerinnen und Wählern auf Widerwillen.
Eine transeuropäische Liste würde auch genau das verhindern, was die EU braucht, um Machtmissbrauch durch EU-Großmächte zu verhindern: nämlich eine Kleinstaatenallianz bzw. eine europäische Kleinstaatenpartei. Mit Ausnahme der Kanzler-Schüssel-Frage hat DCB den sogenannten deutsch-französischen Motor, der zu oft ein deutsch-französischer Kolbenfresser ist (siehe kontraproduktive Sanktionen gegen schwarz-blaue Regierung in Ö 2000), mit Gesamt-EU verwechselt (er betrachtete in den 90er Jahren die Vertretung von Deutschland und Frankreich z.B. in der Bosnien-Kontaktgruppe als „Vertretung Europas“, obwohl die europäischen Kleinstaaten nicht vertreten waren). Die 70 durch den Brexit freiwerdenden Mandate nicht auf die Nationalstaaten zu verteilen, sondern für eine transeuropäische Liste zu reservieren, würde auch eine Senkung der Eintrittshürde verhindern. Genau der Kleinstaatenpartei, die Machtmissbrauch durch EU-Großmächte verhindern oder vermindern könnte, wird dadurch der Einzug ins EU-Parlament erschwert. DCBs Vorschlag ist so gesehen antidemokratisch und pluralismusfeindlich.
Michel Rocard´s Behauptung aus dem Jahr 2014, als er „A French Message to Britain: Get out of Europe before You wreck it“ schrieb, die Briten würde ihre Großmachtstellung missbrauchen und so Europa zerstören, kann man auch (in geringeren Maße) in Bezug auf andere europäische Großmächte feststellen: so gesehen wäre vielleicht eine Kleinstaatenunion (in der kein Mitglied mehr als 30 Millionen Einwohner haben darf) besser.
Ganz abgesehen davon, dass wahrscheinlich niemals Juncker, Schulz, Keller und Verhofstadt Marine Le Pen auf einer gemeinsamen Liste akzeptieren würden, was auf einen Ausschluss rechter Parteien von Wahlprozessen hinausläuft.
.) Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten. Gerade die verunglückte Quasi-Direktwahl von Jean-Claude Juncker bei der letzten EU-Wahl und der darauf folgende (dadurch verursachte?) Brexit sollte zur Vorsicht mahnen.
.) den Brexit als größten Diebstahl des Jahrhunderts bezeichnen, aber (genauso wie der größte Teil des Rests der schwarz-rot-grün-liberalen EU-Polit-Elite?) nicht zu sagen, warum. Die etablierten Parteien können scheinbar nicht zugeben, dass die a-la-carte-Behandlung, die Sonderbedingungen und Opt-Outs, die Großbritannien in den letzten Jahrzehnten genoss, einen Schaden für alle anderen EU-Mitgliedsstaaten darstellte. Sie können scheinbar nicht zugeben, dass GB wegen des Budapest-Memorandums 1994, in dem GB, USA und Russland die Grenzen der Ukraine garantierten, die treibende Kraft bei den Russland-Sanktionen war, und dass etwas mehr als 20 andere EU-Staaten (darunter Österreich) widerwillig folgten. Im Privatscheidungsrecht ist die Frage, wer die treibende Kraft war und wer widerwillig folgte, von großer Wichtigkeit bei der Festlegung von Entschädigungshöhen, und dasselbe Prinzip sollte auch für Staatenscheidungen wie den Brexit gelten. Ich und meine Partei fordern daher als Reaktion auf den Brexit Fairness von GB, die durch Schadenersatzleistungen im Zusammenhang mit Opt-out-Schäden und Russlandsanktionsschäden bewerkstelligt werden kann. Inwiefern auch Schäden, die GB durch eine angebliche lange Blockadehaltung in Zusammenhang mit einer Verteidigungsunion (VU) anrichtete, wie die deutsche Verteidigungsministerin Von der Leyen kürzlich behauptete, Schadenersatzforderungen oder -wünsche nach sich ziehen, oder inwieweit das nur eine Schutzbehauptung von Von der Leyen war, ist noch zu eruieren. Mit einer VU hätte man zahlreiche Probleme (wie z.B. die Flüchtlingskrise) unter Umständen besser handhaben können. Eine solche VU innerhalb der EU zu sabotieren, dadurch Probleme und Schäden zu verursachen, und hinterher schadenersatzlos zu brexitieren, wäre eine Chuzpe der Sonderklasse, mit der wohl nur eine machtmissbrauchende Großmacht durchkommt, und zwar auch deswegen, weil der Rest der EU-Polit-Elite dieses Thema in den letzten Jahrzehnten verschwieg. Die Intransparenz der Abläufe innerhalb der europäischen Eliten, bei denen man Verhandlungsdetails oft erst Jahre oder Jahrzehnte später erfährt, ist mit einer der Gründe für die Ablehnung in weiten Teilen der Wählerschaft. Eine Neuabstimmung in der Brexit-Frage unter Thematisierung von Schadenersatzleistungen für Bevorzugung von Großbritannien in den letzten Jahrzehnten würde wahrscheinlich andere Mehrheitsverhältnisse bringen als die Brexit-Abstimmung mit 51.9% Austrittsvotum.
Nachdem alle anderen europäischen Politiker jahrzehntelang unfähig waren, das britische Cherry Picking zu beenden oder auch nur zu thematisieren (mit Ausnahme von Michel Rocard und seinem Artikel „A French message to Britain: Get out of Europa before you wreck it“), muss man dem britischen Ex-Premier Cameron vielleicht dankbar sein, durch das Ansetzen des Referendums eine Perspektive zur Beendigung des britischen Rosinenpickens geschaffen zu haben – ob absichtlich oder unabsichtlich, bleibt dahingestellt.
Link: