Das angebliche NATO-Nichtosterweiterungsversprechen laut Putins Propaganda

Seit ungefähr 15 Jahren behauptet der russische Präsident Vladimir Vladimirowitsch Putin, die NATO hätte versprochen, sich nicht nach Osten zu erweitern.

Allerdings: in den Dutzenden oder Hunderten von Verträgen zwischen dem Westen und Russland in den letzten Jahrzehnten findet sich über dieses angebliche Versprechen genau gar nichts.

Eines der wenigen dürren Indizien, worauf die Vertreter der Putin-"Sicht" (darunter auch so mancher FUF-Blogger) sich berufen, ist eine kryptische Aussage des US-Aussenministers James Baker 1991, die Nichterweiterung der NATO nach Osten verstehe sich von selbst.

Allerdings war er nur Aussenminister, und ohne Regierungsbeschluss und ohne Parlamentsratifizierung gar nicht berechtigt, eine derartig weitreichende Sache wie eine komplette NATO-Nichtosterweiterung zu versprechen.

Interessant, dass Putin, der seinen eigenen Aussenminister Lawrow als eine Art Laufburschen behandelt, ohne die Erlaubnis, irgendwas viel Kleineres als Fragen von der Bedeutung der fraglichen NATO-Nichtosterweiterung zu versprechen, dem US-Aussenminister eine Allmacht zuspricht, während er gleichzeitig seinem eigenen Aussenminister Lawrow nicht einmal die geringste Kompetenz zugesteht.

In Bezug auf dieses angebliche Versprechen sind auch weitere Aspekte zu betrachten:

1.) der finanzielle: wenn man auch den Eindruck haben kann, dass bei den Verhandlungen rund um die deutsche Vereinigung am Anfang die Erwägung eines NATO-Nicht-Erweiterungsversprechens gestanden haben mag, so scheint sich im Laufe der Verhandlungen der Fokus verschoben haben weg von diesem Versprechen hin zu dem Riesenhaufen deutschen Geldes. In der Folge der deutschen Vereinigung hat Deutschland tatsächlich riesige Mengen Geldes an Sowjetunion/Russland überwiesen.

Irgendeine informelle Überlegung in einer Zwischenphase der Verhandlungen, die dann im weiteren Verlauf aufgegeben wurde zugunsten von etwas Bessserem, ist kein Versprechen, osndern gar nichts. Für Verträge und Vereinbarungen gilt nur das Endergebnis, nach dem Prinzip: "Nichts ist vereinbart, bis nicht alles vereinbart ist"

Die Wirtschaft der Sowjetunion basierte damals ähnlich wie heute die Wirtschaft Russlands sehr wesentlich auch dem Export von Rohstoffen, hauptsächlich Erdöl und Erdgas.

Allerdings war der Ölpreis in den 1980er-Jahren stark gefallen, auch wegen der Niedrigölpreispolitik des saudi-arabischen Ölministers Scheich Jamani. Diese Niedrigölpreispolitik von Scheich Jamani war vermutlich auch eine saudische Solidaritätserklärung gegenüber den islamischen Glaubensbrüdern in Afghanistan, das 1979 von der Roten Armee der Sowjetunion überfallen worden war.

Dieser niedrige Ölpreis war für das Ölexportland Sowjetunion eine Katastrophe gewesen, und die Sowjetunion brauchte dringend Geld, erstens, um die Kosten des sowjetischen Überfalls auf Afghanistan abzudecken, zweitens, um die marode Sowjetwirtschaft zu modernisieren und zu sanieren, und drittens um die Unruhe und die Proteste im eigenen Land einzudämmen. Mit anderen Worten: die Sowjetelite rund um Gorbatschow und Schewardnadse hatte die DDR an Westdeutschland verkauft, weil sie gar keine andere Wahl hatte und dringend das deutsche Geld brauchte.

Das war zumindest die Sicht des Reformerflügels innerhalb des Zentralkomitees der KPdSU gewesen. Es gab in der Sowjetunion auch einen Traditionalistenflügel, der der Meinung war, das Sowjetimperium sei um jeden Preis aufrechtzuerhalten, auch um den Preis der Verarmung der eigenen Bevölkerung, der totalitären Unterdückung der Protestbewegung wegen der schlechten wirtschftlichen Lage, etc. Und dieser Traditionalistenflügel innerhalb des ZK, bzw. innerhalb der SU wollte so was wie ein NATO-Nichterweiterungsversprechen.

D.h. es ist durchaus plausibel, dass Gorbatschow und Schewardnadse Baker dazu drängten, dieses unbefugte Pseudo-Versprechen zu machen, die NATO-Nichtosterweiterung verstehe sich von selbst, um den anderen Flügel innerhalb der kommunistischen Partei zu besänftigen.

Allerdings hat das nicht viel gebracht, denn 1994 gab es dann einen Putsch dieser KP-Traditionalisten gegen Gorbatschow, der dann zum Zerfall der Sowjetunion führte und dazu, dass Jelzin Präsident wurde.

Im Zusammenhang mit dem Afghanistankrieg der 1980er-Jahre sei noch ein weiterer Aspekt genannt, nämlich der (islamische) Widerstand gegen die sowjetkommunistische Invasion, der vom Westen, insbesondere durch die USA unterstützt wurde, zum Beispiel durch Lieferung von Boden-Luft-Raketen, die es den islamischen Kämpfern ermöglichte, zu geringen Kosten sehr teure sowjet-russische Kampfhubschrauber und Kriegsflugzeuge vom Himmel zu holen.

Unter den islamischen Kämpfern damals war auch ein gewisser Osama Bin Laden, der später durch die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York Weltberühmtheit erlangen sollte.

Der frühere Präsident der Wirtschaftskammer Österreich, Christoph Leitl behauptet in seinem Buch "Europa und ich" (ecowing Verlag), zu dieser Frage des angebichen NATO-Nichterweiterungsversprechen, es müssten Historiker klären, wie das damals war. Ich bezweifle, ob das möglich ist, normalerweise gibt es nach Archivöffnungen nach 30 oder 50 oder 70 Jahren manchmal Möglichkeiten, derartige Dinge neu zu bewerten, aber in diesem Fall kann oder muss man annehmen, dass Putin die Vernichtung von historischen Dokumenten angeordnet hat, die Licht in die Sache bringen könnten, sodass wir vermutlich auf Plausibilitätsüberlegungen als einzige Möglichkeit angewiesen sind.

Zweitens stellt Leitl das so dar, als wäre Gorbatschow irgendwie mysteriös aufgetaucht, und irgendwie mysteriös verschwunden, er läßt dabei die Tendenz der Sowjetwirtschaft zu Mißwirtschaft und Stagnation außer acht, ebenso wie er die Rolle des Afghanistan-Krieges und der Niedrigölpreispolitik des saudischen Ölministers Scheich Jamani außer Acht läßt, die zum Untergang der Sowjetunion, bzw. militärisch expaniven Sowjetunion beigetragen hat.

In den USA war damals Ronald Reagan Präsident, der mit seinem "Strategic Defense Initiative" (SDI); genannt "Star Wars" die technologische Überlegenheit der USA betonte: die Idee hinter SDI war, durch satellitengestützte Atomraketenabwehrsysteme die USA unverwundbar zu machen, was auch einer Außerkraftsetzung des atomaren Gleichgewichts des Schreckens gleichkam.

Auch wenn viele Österreicher und -innen so wie anscheinend Leitl glauben mögen, dass der Entspannungs- und Tauwetterpolitiker Gorbatschow so irgendwie überraschend vom Himmel gefallen wäre, so kann man als Realist durchaus die gegenteilige These vertreten, dass es eine gewisse Härte der westlich-islamischen Allianz nach dem sowjetischen Überfall auf Afghanistan gewesen war, die zu einem Kurswechsel in der Sowjetunion geführt hatte.

Eine westlich-islamische Allianz ! Man kann sich das gar micht mehr vorstellen heute, obwohl gerade in Hinblick auf Ukrainekrieg und potenziellen Taiwan-Krieg (diese Gefahr hat Leitl in einem "Krone"-Interview wenigstens zu Recht erwähnt) eine derartige Konstellation einer erneuten westlich-islamischen Allianz als sehr vielversprechend erscheinen kann.

Leitl behauptet übrigens auch, Gorbatschow hätte sich länger gehalten, wenn der Westen ihm Geld zur Verfügung gestellt hätte. Aber der Westen (speziell Deutschland) hat Gorbatschow ja große Mengen Geld zur Verfügung gestellt.

Aber eben das betrachtete der Imperiums-Flügel in ZK und KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) ja als Verrat und als Grund, um gegen Gorbatschow zu putschen.

Inwieweit diese großen deutschen Zahlungen an Russland/SU dazu beitrugen, dass Putin Russland aufrüsten und seine zahlreichen Kriege führen konnte (Tschetschenien 2000, Georgien 2008, Krim/Ukraine 2014, Syrien 2015, Ukraine 2022), bliebe noch zu klären.

Es stellt sich in Bezug auf dieses von Putin und seinen Trollen behauptete Versprechen die Frage, ob es überhaupt völkerrechtskonform gewesen wäre, denn in der UNO-Charta ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker verankert, also konkret das Recht aller Völker zwischen Deutschland und Russland, selbst zu entscheiden, ob sie NATO-Mitglied werden wollen oder nicht.

Und im Jahr 2002 hat Putin genau das betont und unterstrichen; damals sagte Putin: "Alle Länder zwischen Deutschland und Russland haben das Recht, der NATO beizutreten."

Allerdings könnte es sein, dass Putin seine Meinung dazu wegen des Irakkrieges 2003 geändert hat.

Damals interpretierte die "Koalition der Willigen" unter Führung der USA (auch GB, Sp, It, NL, Tsch, Pl, etc., 30 bis 40 Staaten waren dabei) zwei alte UNO-Sicherheitsratsresolutionen als Erlaubnis für den Irakkrieg, eine Position, der Russland, China und zahlreiche westliche Völkerrechtler widersprachen. (Laut ihnen hätte es eine spezielle, neue, UNO-Sicherheitsratsresolution, maßgeschneidert für den Irakkrieg gebraucht, eine durchaus plausible Sicht)

Auf jeden Fall könnte der Irakkrieg das Ereignis gewesen sein, das Putins Politik änderte, von einer kooperativen Politik wie in Zusammenhang mit der Afghanistan-Intervention von 2001 (damals stimmte Putin-Russland im UNO-Sicherheitsrat dafür, dass eine "Koalition der Willigen" unter Führung der USA in Afghanistan intervieniert) zu einer konfrontativen, aggressiven. Die meisten Russen und Russinnen merken den Widerspruch zwischen der damaligen putin-russischen Zustimmung zur westlichen Afghanistan-Intervention 2001 und der heutigen putin-russischen Verteufelung ebendieser Intervention gar nicht, weil die putin-russischen Propaganda-Medien diesen Widerspruch konsequent verschweigen. Was zumindest Mearsheimers These bestätigt, dass man das Volk in der Aussenpolitik so leicht belügen könne, wie in kaum einem anderen Politikfeld. Die Afghanistan-Intervention kanna uch gesehen werden als NATO-Doppelmoral: in vergleichbaren Fällen mit nicht-muslmischem Terror (beispielsweise katholischem Terror wie der Irish Republican Army in Nordirland-Konflikt oder dem Südtiroler Bumserer-Terror war auch ein NATO-Land und ein Nicht-NATO-Land verwickelt, ohne dass afghanistan-gleich der "NATO-Bündnisfall" erklärt wurde). Zahlreiche Völkerrechtler vertreten auch die Meinung, dass die Erklärung des NATO-Bündnisfalls im Falle von Afghanistan ungerechtfertigt war, weil es sich um einen relativ kleinen nicht-staatlichen Akteur handelte und nicht um einen Staat.

Aber es könnten auch Kosovo-Abspaltung durch den Westen oder Überlegungen von George W. Bush, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, gewesen sein, die zu Putins Politikwechsel beitrugen.

Auf jeden Fall haben Deutschland und Frankreich (Merkel und Sarkozy) damals am NATO-Gipfel 2008 ein Veto gegen die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO eingelegt. Und eben diese Nicht-NATO-Mitgliedschaft ermöglichte laut den "Falken" Putins Krieg gegen Georgien und Ukraine.

Und Putin weiss das auch ganz genau, dass dieses angebliche Versprechen, das er seit ca. 15 Jahren behauptet, bedeutungslos ist, denn oftmals hat er in Interview Gorbatschow vorgeworfen, nichts davon in irgendwelchen Verträgen verankert zu haben.

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