Ein russischer Schüler, Nikolai Desjatnitschenko, der sich mit dem Leben eines 1943 in Stalingrad gefallenen Wehrmachtsgefreiten, Georg Johann Rau, beschäftigt hatte, hat darüber eine Rede im deutschen Bundestag gehalten, in der er sagte: "Ich sah die Gräber unschuldig ums Leben gekommener Menschen, unter denen viele in Frieden leben und nicht kämpfen wollten. Sie haben während des Kriegs unwahrscheinliche Mühen durchlebt, über die mir auch mein Urgroßvater erzählte, der als Kommandeur einer Schützenkompanie am Krieg teilnahm."
Der Sieg der UdSSR, bzw. der Roten Armee, der im Übrigen ohne die Lend-and-Lease-Verträge (de facto: Kriegsmaterialschenkungen) mit den USA nicht möglich gewesen wäre, ist in Russland Teil des kollektiven Gedächtnisses bzw. der kollektiven Indoktrination. Demgemäß müssen natürlich alle Wehrmachtssoldaten Nazis und Bestien sein.
Daher stiess die Formulierung "unschuldig ums Leben gekommener Menschen" in Russland bei vielen russischen Politikern und Medien auf heftige Kritik.
Desjatnitschenko erhielt für seine Rede sogar eine Anzeige wegen "Rehabilitierung des Nazismus".
Ich kann dazu nur sagen: ein Großonkel von mir wurde ca. 1942 strafweise an die Ostfront (also an die Russlandfront, er war auch im Kaukasus) versetzt, weil er gesagt hatte: "Nationalsozialismus ist verfeinerter Bolschewischmus".
Damals bedeutete das ein halbes Todesurteil, obwohl er das Glück hatte, zu überleben.
Wie kann die Wahrheit, eine differenzierte und komplizierte Wahrheit, "Naziverharmlosung" und "Vaterlandsschädigung" sein ?
Wohl nur deswegen, weil diese komplizierte und differenzierte Wahrheit der im eigenen Land dominierenden Propaganda widerspricht. Der "Nazi-Verharmlosung-Vorwurf" und der "Vaterlandsverrats-Vorwurf", die nun gegen einen 16-Jährigen erhoben werden, der sich mit der Geschichte einer einzigen Person auseinandergesetzt hatte, sind wohl nur ein Ablenkungsmanöver, das davon ablenken soll, dass den Russen viele jahrzehntelang eine falsche propagandistisch-verzerrte Version der Geschichte präsentiert wurde. Auch wenn in der Ära Jelzin Anfänge zur Vergangenheitsaufarbeitung gemacht wurden, so wurden diese in der Ära Putin wieder zurückgedreht.
Der Fall zeigt auch auf, dass Russland ein problematischer Fall ist, ein großes und mächtiges Land (das zum Beispiel im UNO-Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügt), das aber dennoch weit davon entfernt ist, die Verantwortung, die mit dieser Größe und dieser Macht einhergeht, wahrzunehmen.
Mir scheint es so zu sein, dass Desjatnitschenko in diesem Fall unrecht getan wird.
Auch diese russischen Gesetze, die vieles Wahre unter Strafe stellen, was der offiziellen Geschichtsversion widerspricht, sind problematisch und sollten geändert werden.