Franz Stigler war im zweiten Weltkrieg ein Jägerpilot. Sein Auftrag und Befehl war, mit seiner Messerschmidt Bf 109 soviele alliierte Flugzeuge abzuschiessen wie möglich.
Aber eines Tages (Stigler hatte bereits 22 Abschüsse getätigt und es fehlte ihm nur ein weiterer, um das Ritterkreuz zu erhalten, eine hohe damalige Auszeichnung) begegnete er einem US-Amerikanischen Bomber, einer "Flying Fortress", einer Boeing B-17, die so schwer vom Gefecht havariert und auf dem Rückflug nach Großbritannien war, dass er sich dazu entschied, sie entgegen dem Befehl und obwohl ihm noch ein letzter Abschuss für den Orden fehlte, nicht abzuschiessen, sondern sie zu eskortieren, also Geleitschutz bis zum Ärmelkanal zu geben. Die meisten MG-Schützen der B-17 waren entweder bereits getötet oder schwer verwundet, oder sie verarzteten ihre Kameraden, wie Stigler im Vorbeiflug wegen der an vielen Stellen weggeschossenen Flugzeugwände sehen konnte. Zwei der vier Motoren der B-17 von Brown und seiner Crew waren im Gefecht beschädigt worden und ausgefallen, sodass die Maschine nicht mit dem Tempo des Bomber-Pulks mithalten konnte, der so schnell wie möglich nach Großbritannien zurückwollte. Und als einsam fliegende Maschine war sie eben sehr verwundbar, weil die Verteidigungsfähigkeit von B-17-Bombergeschwadern eben oft darin bestand, dass sie sich gegenseitig Feuerschutz gaben und anfliegende deutsche Jäger gemeinsam unter Feuer nahmen.
Eskortierte B-17 über von Nazideutschland kontrolliertem Gebiet wurden üblicherweise nicht von anderen Jägerpiloten angegriffen oder oder von Flugabwehrkanonen beschossen, weil auch die deutsche Luftwaffe erbeutete B-17 verwendete und diese üblicherweise von deutschen Jägern zur Kennzeichnung eskortiert wurden.
Dabei ging Stigler ein hohes Risiko ein, denn ein solches Verhalten konnte als Befehlsverweigerung, Wehrkraftzersetzung, ode Ähnliches interpretiert werden und konnte auch mit einem Todesurteil beim Kriegsgericht enden.
Nach seinem Flug stellte Stigler sich auf den Standpunkt, aus humanitären Gründen gehandelt zu haben, und dass für ihn das mit Fallschirm abgesprungenen Piloten gleichkam, deren Tötung aus seiner Sicht (und aus der seines Vorgesetzten) unmoralisch war.
Im Jahr 1987, also 42 Jahre nach dem Krieg begann Charles Brown, der Pilot der B-17, nach dem deutschen Me-109-Piloten, der ihm und seinen Kameraden das Leben gerettet hatte, zu suchen. Und über Vermittlung von Adolf Galland und dem Jägerblatt, die Zeitschrift der Gemeinschaft der deutschen Jagdflieger, fand er Stigler tatsächlich, und es entstand eine enge Freundschaft zwischen den beiden und ihren Familien.
In weiterer Folge wurde der Fall auch medial aufgearbeitet: in den USA erschien ein Buch über den Fall (" A Higher Call. An Incredible True Story of Combat and Chivalry in the War-Torn Skies of World War II. Penguin, New York 2012, ISBN 978-1-101-61895-0" ), und eine schwedische Rockband machte einen Song daraus.
Interessanterweise werden solche Fälle in Deutschland und Österreich überhaupt nicht medial aufgearbeitet, weil sie überhaupt nicht ins dichotome Schema passen, dass man quasi entweder Nazi oder Widerstandskämpfer sein müsse. Auch zur in Deutschland und Österreich verbreiteten Meinung, dass einzig und alleine Pazifismus die richtige Position sei, und jeder Krieg und jede Kriegsteilnahme böse sei, passt Stigler nicht. Die Angst, wegen der Aufarbeitung solcher Fälle ins rechtsextreme Lager gerückt zu werden, ist in Österreich und Deutschland eine zensurähnliche Sperre, die sowohl Historiker als auch Schriftsteller und Künstler daran hindert, sich mit solchen Fällen zu beschäftigen. Und den "Rechten" war Stigler nicht Nazi genug, sie ziehen Nowotny eindeutig vor.
Und im deutschsprachigen Raum erscheinen dann über die Heldenverehrung in den USA Artikel wie "https://www.wochenblatt.de/news-stream/regensburg/artikel/24561/regensburgs-vergessener-held-ist-in-uebersee-eine-echte-ikone"
Wobei: genau genommen wurden diese Fälle nicht vergessen, sondern sind Insidern sehr wohl bekannt, die aber nicht darüber publizieren, aus Angst wegen der Nazikeule und dem Nazivorwurf und dem Vorwurf, den Nazistaat rehabilitieren zu wollen.
Auch der Fall des Oskar Schindler wurde nicht von einem deutschen oder österreichischen Regisseur filmisch aufgearbeitet, sondern von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg, nämlich als Schindlers Liste. (ich verdanke übrigens einem Soziologieprofessor, nämlich Reinhold Knoll, den Hinweis auf dieses Phänomen)
Hier zeigt sich in Wirklichkeit, dass der Antinazismus in Deutschland und Österreich auch problematische Formen annimmt und so manche Exzesse und selbst wieder unmoralische und wahrheitsvertuschende Übertreibungen hervorbringt. Man könnte wegen des Vertuschens von kritisch-loyalen Grenzfällen in Deutschland und Österreich auch von einer "antinazistischen Diktatur" sprechen.
Jägerpiloten neigten vielleicht stärker als andere dazu, einen eigenen Code of Conduct, einen eigenen Ehrenkodex zu entwickeln, auch deswegen, weil sie alleine sind, und nicht unter "Sozialer Kontrolle", und ähnlich wie Scharfschützen gewohnt sind, alleine in der konkreten Situation zu entscheiden.
Ein ähnlicher Fall ist der Fall des "roten Baron", von Manfred von Richthofen im ersten Weltkrieg: er hatte den Auftrag gehabt, sein Flugzeug in Tarnfarbe zu bemalen, und wählte als "Tarnfarbe" knallrot; seine Begründung war, es sei unritterlich, sich zu tarnen und nicht mit offenem Visier zu kämpfen. (Die "Ritterlichkeit" kommt übrigens auch im Titel des US-Buches über Stigler als "Chivalry" vor).
Ritter (so zwischen 5. und 15. Jahrhundert) waren in der Tat extrem ungetarnt, und ihre Rüstungen, mit denen sie auf dem Pferd sassen (daher der Name), waren von weitem zu sehen und zu hören.
Der "rote Baron" kommt wiederum bei den Peanuts vor durch Snoopy, und hat als solcher auch in die Populär- und Unterhaltungskultur gefunden.
Man könnte sagen, die Ritterlichkeit ist eine privatisierte Version des Kriegsrechts, das dem Krieg Grenzen setzt und das absichtliche Tötung von Zivilisten und entwaffneten oder kapitulierenden Soldaten und Ähnlichem unter Strafe stellt und auch Ahndung nach dem Krieg ermöglicht.
In meiner Familie gab es einen ähnlichen Fall von kritischer Loyalität: ein Großonkel von mir wurde an die Ostfront straf-versetzt, weil er öffentlich gesagt hatte "Nationalsozialismus ist verfeinerter Bolschewismus" und damit auf den totalitären Charakter beider Systeme anspielte. Auch das war bis zu einem gewissen Grad "Wehrkraftzersetzung" und die strafweise Versetzung an die Ostfront bedeutete eine 30-50%ige Todeswahrscheinlichkeit.
Und kürzlich nahm ich an einem Psychologenkongress an der Uni Wien teil, in dem eine Teilnehmerin ihren Fall schilderte: sie und ihr Mann (beide Juden) waren in Theresienstadt und ihr Mann sollte in den Osten transportiert werden. Sie stellte sich auf den Standpunkt "Wir sind verheiratet. Entweder wir gehen beide oder keiner". Nach einigem Hin und Her entschied sich der befehlhabende SS-Mann dazu, keinen der beiden in den Osten zu verfrachten. Auch das konnte unter Umständen als Befehlsverweigerung oder Ähnliches gedeutet werden. Auch dieser Mann ging ein Risiko ein, aber offensichtlich hatte die Ehe für ihn eine hohe Bedeutung.
In eine ähnliche Kategorie fallen vielleicht auch die Wehrmachtsgeneräle Halder und Beck, die 1938 einen Putsch gegen Hitler planten, falls die Sudetenkrise eskalieren sollte, was sie aber nicht tat, weil Großbritannien und Frankreich sich mit Nazideutschland auf das Münchner Abkommen einigten. Beck wurde 1944 in Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Putschversuch hingerichtet.
"No bullets fly", Song der schwedischen Rockband Sabaton zur Begegnung von Stigler und Brown
Doku über Stigler und Brown, natürlich englischsprachig, weil deutsche oder österreichische Fernsehsender solche Dokus trotz oder wegen Deutschlandbezugs eben nicht machen.