Nachdem wir in den letzten beiden Tagen drei FUF-Tagesthemen hatten, in denen in die eine oder andere Richtung skandalisiert wurde, in denen behauptet wurde, die Wahl oder Nicht-Wahl von Kemmerich sei ein Skandal, möchte ich eine nüchternere Mitteposition beziehen.

Erstens einmal ist die AfD ein neues Phänomen für Deutschland und Staaten neigen offensichtlich dazu, auf neu entstehende Parteien hysterisch zu reagieren. Der österreichische Philosoph Rudolf Burger meinte im Jahr 2000 nach der ersten schwarz-blauen Regierungsbildung und den Reaktionen darauf, die Österreicher seien ein zutiefst hysterisches Volk. Aber die Thüringen-Wahl zeigt wohl, dass die Österreicher die Phase der Hysterie, die nach der Machtübernahme von Haider in der FP 1986 ca. 20 oder 30 Jahre lang gedauert hatte, überwunden haben, hingegen die Deutschen (egal, ob links oder rechts) nun so hysterisch sind wie die Österreicher vor 30 Jahren.

Die Debatten rund um die AfD ähneln sehr den Debatten rund um die FPÖ vor 30 Jahren. Aber da die Politik, Medien und Blogger (egal, ob links oder rechts) erstens sehr nationalistisch sind und kaum über den Tellerrand der eigenen Nation hinausschauen und zweitens sehr tagesaktuell und unhistorisch argumentieren und denken, fallen niemandem größere Zusammenhänge, egal, ob zeitlich oder räumlich, auf.

Zu den größeren Zusammenhängen gehört auch der europäische: Europa ist gekennzeichnet von einer Vielfalt der Wahlsysteme, die man auch als Widersprüchlichkeit der Wahlsysteme sehen kann, dies betrifft auch die sogenannte deutsch-französische Achse: Frankreich hat ein romanisches Mehrheitswahlrecht, das eine Tendenz zu einem Zweiparteiensystem hat, Koalitionen weitgehend überflüssig macht und „Cordon-Sanitaire“-Praktiken ermöglicht, hingegen Deutschland hat ein Verhältniswahlrecht, das eine Tendenz zu einem Vielparteiensystem hat, Zweier- oder Dreierkoalitionen erfordert und „Cordon-Sanitaire“-Praktiken schwierig macht. Unter „Cordon Sanitaire“ versteht man einen Konsens fast aller Parteien, mit einer (egal, ob zurecht oder zuunrecht) als extremistisch empfundenen Partei nicht zu koalieren oder zusammenzuarbeiten, wobei beim französischen System sich auch die Frage einer Unterstützung bei einer Wahl (z.B. einer Minderheitsregierung) erübrigt, weil zumeist eine Partei ein absolute Mandatsmehrheit (keine absolute Stimmenmehrheit) hat.

Der Begriff des "Cordon sanitaire" kommt aus dem Französischen und bezeichnete ursprünglich die Eindämmung von Seuchen, wurde im Laufe der Zeit auch auf die Politik militärischer Bündnisse ausgeweitet, bei denen es darum ging, die Ausbreitung einer revolutionären Macht zu verhindern. Gerade aber in der demokratischen Politik ist sehr fraglich, ob eine Regierungsbeteiligungsverweigerung die Ausbreitung von Parteien verhindert oder befördert: mit Märtyrereffekt und Oppositionsbonus können viele Parteien schnell wachsen, während sie bei Regierungsbeteiligung oft schnell schrumpfen. Deswegen spricht man oft von "Entzauberung durch Regierungsbeteiligung".

Da die Bundeskanzlerin auch sehr wesentlich für den Aussenauftritt zuständig ist und für das Ansehen Deutschlands in Europa und in der Welt, kann ihre Aussage auch so gesehen werden: Deutschland wurde nach den zwei Weltkriegen international sehr skeptisch beurteilt und beobachtet (ob zurecht oder zuunrecht, möchte ich einmal dahingestellt lassen), und daher zu einer übermäßigen Anpassung und Zurückhaltung gezwungen: so gesehen kann man die in der Tat problematische Position der Kanzlerin zur Thüringen-Wahl auch als historisch oder international bedingt betrachten; die Frage der internationalen Sicht spielte auch eine Rolle bei den sogenannten „Sanktionen“ der (damaligen) EU-14 gegen die schwarz-blaue Regierung in Österreich im Jahr 2000: auch wenn formal die Staaten der EU eine formale Eigenständigkeit haben, so stellt sich doch die Frage, inwieweit die europäischen Parteien (auch in Anbetracht der unterschiedlichen Wahlsysteme) eine einheitliche Politik gegenüber einer als extremistisch empfundenen Partei praktizieren können oder müssen.

Laut Politikwissenschaft ist es Aufgabe von Parteien, extremistische Elemente zu mäßigen und moderieren, aus Extremisten tendenziell Zentristen zu machen, so gesehen sind Parteien mit extremistischen Elementen nicht nur erlaubt, sondern sogar positiv, wenn ein Trend zur Mäßigung in dieser Form besteht.

Aus allen diesen Gründen glaube ich, dass die Skandalisierung in die eine oder andere Richtung, die wir in den vorangegangenen Tagen in Form des Tagesthemas erlebten, unsachlich, hysterisch und übertrieben ist.

CC / Prößdorf https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Kemmerich#/media/Datei:2020-02-05_Th%C3%BCringer_Landtag,_Wahl_des_Ministerpr%C3%A4sidenten_1DX_2723_by_Stepro.jpg

Kurzzeit-Ministerpräsident Kemmerich, dessen Wahl die sogenannten Thüringen-Krise auslöste, die zu linken und rechten Hysterieanfällen führte

privat https://www.styriabooks.at/info/autoren/rudolf-burger

Gilt die "Hysterisches Land"-These, die der Philosoph Rudolf Burger vor 20 Jahren auf Österreich wegen FPÖ münzte, nun auch für Deutschland wegen der AfD ?

In Wahrheit zeigt eine nüchterne Betrachtung des österreichischen Beispiel, dass beide Skandalisierungen, sowohl die linke wie auch die rechte, maßlos übertrieben sind, wie das Skandalisierung nun mal so an sich haben.

In Österreich schrumpfte die FPÖ jedesmal nach einem Regierungseintritt (2000-2002, 2017-2019) stark, bei den Nationalrats-Wahlen 2002 um 17% der österreichischen Gesamtwähler, bei der NR-Wahl 2019 um 10%. Und man kann annehmen, dass es der AfD genauso erginge.

So gesehen müssten sich Linke über FPÖ-Regierungsbeteiligung freuen, hingegen Rechte über FPÖ-Regierungsbeteiligung ärgern. De facto ist das Gegenteil der Fall: die Linke hofft, durch Skandalisierung über die Antifaschismus-Perversion Stimmen zu erhalten und die Rechte hofft, durch Skandalisierung über die "Armes Opfer"-Mentalität Stimmen zu erhalten.

Aber die populistische Übertreibungsrhetorik beider Seiten führt dazu, dass irrational und faktenfrei, eben parteihickhack-hysterisch diskutiert wird. Weil die Menschen es offenbar lieben, von ihren Parteien hysterisiert und belogen zu werden.

Und ja, es mag sein, dass Deutschland ein demokratiepolitisches Entwicklungsland ist, aber eben auch deswegen, weil genau das aussenpolitisch von Deutschland erwartet wurde, weil international von Deutschland erwartet wurde, eine möglichst große Distanz zum Nationalsozoialismus zu wahren. Ein eben auch sehr wesentlich aussenpolitisch beeinflusstes und verursachtes "Tabu", das eben nun von der AfD gebrochen wird.

Der Begriff des "Tabus" und des "Tabubruchs", der heute in den deutschen Medien Medien genausooft vorkommt wie 2000 in den österreichischen, kommt übrigens aus dem polynesischen und bedeutet soviel wie "abergläubisches Verbot", im Sinne von "Wenn Du diesen heiligen Berg besteigst, dann wird der Blitz Dich treffen".

Solche Tabus wurden übrigens von Menschen aus Gemeinheit errichtet und erfunden, beispielsweise um zu verhindern, dass Andere (nämlich die Abergläubigen) zum Beispiel reiche Jagdgründe plündern, die man selber gerne haben möchte.

Und ähnlich verlogen sind oft auch Tabus in der Politik: wenn die AfD beispielsweise von Regierungsbeteiligung ausgeschlossen ist, dann steigen die Chancen von SPD, Grünen und Linkspartei auf Regierungsbeteiligung und Durchsetzung ihres Programms.

Und darum geht es in Wirklichkeit, nicht um irgendwelche Nazi-Nähe.

Mit den Tabus, nicht mit der extremen Linken zu koalieren, ist es übrigens andersrum ähnlich.

Allerdings kann man die Umfrage im verlinkten Euronews-Video, laut der die Linkspartei die große Gewinnerin der Antifaschismus-Hysterie ist, auch so interpretieren, dass die Fixierung auf ein Extrem (z.B. das rechte) immer dem anderen Extrem (also dem linken in diesem Fall) nutzt.

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