Die mit 2015 beginnende Flüchtlingskrise dominiert seit Jahren die politischen Debatten und Wahlkämpfe. Umso erstaunlicher, was der Politikwissenschafter, Historiker und Regierungsberater Herfried Münkler (Humboldt-Universität Berlin) gestern bei einem Vortrag in der AK Theresianumgasse enthüllte.
Eines der wesentlichen Motive von Angela Merkel, bzw. der deutschen Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD, dafür, die deutschen Grenzen nicht zu schliessen, sei gewesen, zu verhindern, dass es am Balkan zu einem Stau von muslimischen Flüchtlingen kommt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Wideraufflammen des Jugoslawien-Krieges der 1990er Jahre geführt hätte, auch deswegen, weil die Aufnahmekapazitäten der betreffenden Länder (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Bulgarien, Griechenland, ...) auch wegen dieses Krieges der 1990er Jahre viel geringer waren als die Aufnahmefähigkeit Deutschlands.
Das Interessante an der Sache ist: genau dieses Argument wurde jahrelang verschwiegen, sowohl von Politik als auch von Medien!
Wahrscheinlich wären auch die Wahlen (sowohl in Deutschland als auch in Österreich) anders ausgegangen, wenn dieses Argument vor der Wahl stärker angesprochen worden wäre.
Wie so oft in der Demokratie erfahren wir einfachen Wählerinnen und Wähler die Wahrheit immer erst nach der Wahl, was die Frage aufwirft, welchen Sinn Demokratie überhaupt macht.
D. KNoflach
Münkler (rechts) mit Peter Huemer (links)
D. Knoflach
D. Knoflach
Über die Motive der deutschen Bundesregierung, dieses Argument zu verschweigen, kann man nur rätseln: vielleicht "mußte" dieses Argument deswegen verschwiegen werden, weil es extrem undiplomatisch gewesen wäre, einem befreundeten Staat bzw. einer Schwesterpartei vorzuwerfen, er bzw. sie sei unfähig, eine Flüchtlingswelle zu bewältigen, ohne in einen Krieg (zurück) zu fallen.
Ein weiterer Aspekt wäre der Nationalsozialismus bzw. seine Folgen: in Zuge der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre und der Kosovo-Abspaltung 2008 und der griechischen Staatsschuldenkrise 2008 ff wurde in Serbien und Griechenland massiv anti-deutsche Propaganda gemacht, mit zahlreichen Merkel-Hitler-Vergleichen. Ein Thematisieren der mehr oder weniger großen Unfähigkeit der betreffenden Staaten, die Flüchtlingskrise zu bewältigen, hätte wahrscheinlich auch wieder Merkel-Hitler-Vergleiche provoziert und damit ein gelassenes Gesprächsklima verdorben.
Die sogenannte "Schliessung der Balkan-Route" war ziemlich irrelevant, weil gleichzeitig die EU Erdogan drei Milliarden pro Jahr zahlte und weiterhin zahlt, damit er die Türkei-Route schliesst, womit dann egal ist, ob die sogenannte "Balkan-Route" offen oder geschlossen ist.
Zum "Veritas filia temporis" ("Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit" ), das der frühere ÖVP-Politiker Andreas Khol sinnverzerrt wiedergegeben hatte:
Als Historiker ist man es ja gewohnt, die Akteneinsicht in die wirklich interessanten Akten erst nach einer 30- oder 50-jährigen Sperrfrist zu bekommen. So gesehen gilt "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit ans Licht kommt" (Und genau das ist die eigentlich Bedeutung von "Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit", nicht "Ein Politiker darf mit der Zeit das, was er als Wahrheit ausgibt, beliebig drehen", so wie das die Khol-Interpretation nahelegt).
Khol "veritas filia temporis" wurde vielfach in zusammenhang gesehen mit seiner Aussage vor 1999, die FPÖ sei außerhalb des Verfassungsbogens. Aber man kann sie auch sehen in zusammenhang mit seiner nach 2000 erfolgten Aussage, ohne schwarz-blaue Koalition würde die ÖVP herabsinken auf 10% und wäre nur mehr Mehrheitsbeschaffer, während Kanzlerduelle bei Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition nur mehr zwischen SPÖ und FPÖ ablaufen würden.