"Wahlkampf ist die Zeit fokussierter Unintelligenz", sagte der scheidende Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ).
Und als Beispiel für fokussierte Unintelligenz in Österreich kann auch der Bundespräsidentschaftswahlkampf Kurt Waldheim gegen Kurt Steyrer dienen, indem alle Seiten und alle Medien komplizierte und differenzierte Wahrheiten verschwiegen.
Kurt Waldheim war in den 1970er Jahren UNO-Generalsekretär gewesen, und hatte damals die Unterstützung der SPÖ.
Allerdings wagte er es, gegen einen SPÖ-Kandidaten anzutreten, was dieser gar nicht gefiel.
So wurden Themen aus seiner Vergangenheit gespielt, in einer Oberflächlichkeit und Undifferenziertheit, die ein sehr schlechtes Licht auf alle beteiligten Parteien wirft.
Waldheim war SA-Mitglied gewesen, einer Art nationalsozialistischer Organisation.
Allerdings wurde in der ganzen Waldheim-Debatte nur diese Mitgliedschaft thematisiert, aber nicht der Zeitpunkt und der historische Hintergrund.
Insbesondere nach dem 1934 von den Hitler loyalen Kräften euphemistisch als "Röhm-Putsch" bezeichneten Ereignissen, die in Wirklichkeit ein Putsch Hitlers gegen Röhm waren und nicht umgekehrt, war die SA (Sturmabteilung) weitgehend marginalisiert gewesen und hatte in einem parteiinternen Machtkampf gegen die SS (Schutzstaffel) den Kürzeren gezogen.
Wäre Waldheim ein Hardcore-Nazi gewesen, wäre er wohl eher der SS oder der NSDAP beigetreten, aber nicht der SA.
Da Waldheim 1918 geboren war und die SA eine Erwachsenenorganisation, konnte Waldheim gar nicht vor 1934 der SA beigetreten sein. Und ein SA-Beitritt nach dem sogenannten "Röhm-Putsch" ist meiner Meinung nach anders zu bewerten als ein SA-Beitritt davor. Auch über den Beitrittszeitpunkt schweigen die Medien sich aus, frei nach dem Motto: "Wozu gründlich recherchieren, ist doch die Halbwahrheit viel besser geeignet zum Skandalisieren ?"
Und der Nazistaat hatte Aspekte eines Einparteienstaats, für viele Karrierewege war die Mitgliedschaft in irgendeiner NS-nahen Organisation praktisch unausweichlich.
Aber die Kritik derjenigen, die durch die Helmut Kohl´sche "Gnade der späten Geburt" bevorzugt sind, fällt es natürlich leicht, die Zeitgeschichtlichen Umstände auszublenden und sich ebenso hoch-moralisch wie faktenignorierend zu empören.
Waldheim hatte wahrscheinlich gelogen, was seine Kriegsvergangenheit betraf: er hatte zwar persönlich nicht an Kriegsverbrechen teilgenommen, aber wahrscheinlich als Soldat darüber Bescheid gewusst und wahrscheinlich über dieses Wissen gelogen.
Aber auch hier gibt es mildernde Umstände: Waldheim war Diplomat gewesen, und gerade die UNO, deren Generalsekretär er wurde, war vielfach auch als "Nations United against Fascism" bezeichnet worden. Wenn Waldheim von Anfang an die volle Wahrheit über seine Zeit im Krieg gesagt hätte (egal, mit welcher Absicht), dann wäre er wahrscheinlich nie UNO-Generalsekretär geworden, sondern hätte sich den Vorwurf eingehandelt, den Nationalsozialismus verharmlosen zu wollen oder früher verharmlost zu haben. Die UNO kann schwer die Gleichberechtigung aller Nationen in ihre Charta schreiben, und dann hinterher das diplomatische Personal von NS-Nachfolgestaaten ausgrenzen und Funktionsverbote erteilen.
Ich habe übrigens aus ähnlichen Gründen auch in meiner Zeit bei der Piratenpartei immer verschwiegen, dass einer meiner Grossväter bei der SS gewesen war, was mir in Zukunft vielleicht noch ähnliche Vertuschungsvorwürfe einbringen wird wie Waldheim.
Er hat aus meiner Sicht nicht besonders geschickt agiert in diesem Wahlkampf, aber dennoch geschickt genug, um die Wahl zu gewinnen.
Auch die These, dass Waldheim als Vertreter des kleinen Österreich eine Art Kanonenfutter dafür war, dass vorher US-Präsident Reagan gemeinsam mit Helmut Kohl einen SS-Friedhof (in Bitburg) besucht hatte, hat etwas für sich.
Das kleine Österreich kann man als Prügelknaben behandeln, das viel größere Deutschland nicht.
Und so hat die US-Regierung eben Waldheim auf die "Watchlist" für Kriegsverbrecher oder mutmassliche Kriegsverbrecher gesetzt, um vom Reagan-Besuch in Bitburg abzulenken, und so manchen jüdischen Organisationen nach dem Motto "Panem et circenses" etwas zum Frass vorzuwerfen.
Die ganze Sache hat eine Aktualität dadurch, dass auch die ÖVP sich nunmehr von Waldheim distanziert.
Zweifelsohne kann der Begriff der "Campaign", den Waldheim verwendete, als antisemitischer Code gesehen werden, aber ob das alleine reicht, um Waldheim als Antisemiten einzustufen, ist zweifelhaft.
Auch für die österreichische Linke, die mit dem Verlust der Kreisky-Mehrheit unzufrieden war, war die Debatte ein willkommener Anlass.
Ich jedenfalls habe mich an der Wahl nicht beteiligt; auf die davor gestellte Frage, wer gewinnen wird, antwortete ich: "Der Kurt", was bei "Kurt Steyrer gegen Kurt Waldheim" keine riskante Zukunftsprognose war. Aber sie entsprach meiner Einschätzung, dass beide Seiten sich falsch verhalten hatten, und beide Kandidaten sich von Extremismen ihres eigenen Lagers hätten distanzieren sollen, und zwar damals und nicht wie mehr als 30 Jahre später die ÖVP, bei der man den Verdacht haben kann, sie distanziere sich heute von Waldheim, um von antisemitischen Untertönen der Silberstein-Affäre im letzten Wahlkampf abzulenken.
CC BY-SA 3.0 / zug.gem. Spremberg https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Waldheim#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-M0921-014,_Beglaubigungsschreiben_DDR-Vertreter_in_UNO_new.png
Kurt Waldheim, 1973