Die Verteidigbarkeitslüge - Wie Politik, Medien und Militärs Österreich belügen

Der US-amerikanische Politikwissenschafter J.J. Mearsheimer meinte in seinem Buch "Why Leaders lie" (Deutscher Titel: "Lüge - Vom Wert der Unwahrheit" ), dass politische Führer ihre Völker insbesondere in aussenpolitischen Fragen deswegen so oft belügen, weil es so einfach geht und weil die Völker oft viel zu aussenpolitisch ahnungslos sind, um zu begreifen, was nötig ist und wie die Zusammenhänge sind.

Im erweiterten Sinne kann man auch militärische Fragen, bei denen es um die Verteidigung gegen einen ausländischen Aggressor geht, als derartige aussenpolitische Fragen betrachten, in denen Lügen und Propaganda besonders häufig sind.

Österreich ist seit 1955 ein angeblich neutrales Land. Ich möchte in diesem Zusammenhang beleuchten, inwieweit Österreich erstens wirklich neutral ist, zweitens, inwieweit die angebliche Neutralität militärisch schützt oder nicht.

Die im Jahr 1955 beschlossene österreichische Neutralität ist eine erzwungene Neutralität, d.h. die Neutralität und der Nicht-Beitritt zur NATO war der Preis, den Österreich zahlen musste, damit die Rote Armee der Sowjetunion aus Ostösterreich abzieht und damit Österreich eine gewisse Souveränität bekommt, und damit die österreichische Bundesregierung nicht wegen jeder Kleinigkeit beim Alliierten Rat betteln gehen muss.

CC / M. Dörrbecker https://de.wikipedia.org/wiki/Besetztes_Nachkriegs%C3%B6sterreich#/media/Datei:Karte_Alliierte_Besatzungszonen_in_%C3%96sterreich_von_1945_bis_1955.png

Teilung Österreichs (und Wiens) in die vier Besatzungszonen 1945-1955: ohne Neutralitätsgesetz wäre es wahrscheinlich zu einer Teilung Österreichs gekommen ähnlich der deutschen Teilung. Die sowjetische Zone (hier in rot) wäre zu einer Art österreichischer DDR geworden, allerdings mit anderen Größenordnungen: während Wien, Niederösterreich und Burgenland rund die Hälfte der Bevölkerung Österreichs ausmachten, machte die DDR nur rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus - auch eine Art Zwang, das Neutralitätsgesetz abschliessen zu müssen, selbst wenn man es inhaltlich ablehnt.

Eine derartige erzwungene Neutralität ist natürlich Resultat einer Erpressung und daher rechtsungültig, genauso wie Verträge und Testamente, deren Unterschrift unter vorgehaltener Pistole und mit Morddrohung erzwungen wurden, rechtsungültig sind.

Um dieser Erpressung zu entwischen, haben österreichische Politiker Hintertürchen in das Neutralitätsgesetz eingebaut, die die Erpressung abmildern, z.B. die Zweckbindung. Die österreichische Neutralität ist keine absolute, sondern eine zweckgebundene, die übergeordnete Kategorie ist Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der Grenzen.

Hier §1 des Neutralitätsgesetzes im Wortlaut:

"(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen."

D.h., wenn die Neutralität der Unabhängigkeit und Grenz-Unverletzlichkeit zuwiderläuft, dann gilt die Neutralität nicht.

Ein weiteres Hintertürchen ist die vage und unpräzise Formulierung des Wörtchens "diese": dabei bleibt offen, ob mit "diese" (die Österreich sich aufrechtzuerhalten verpflichtet), die Neutralität, oder die Unabhängigkeit oder die Grenz-Unverletzlichkeit gemeint ist.

Die Mehrdeutigkeit dieses Gesetzes ist kein Fehler, der unabsichtlich passiert ist, sondern wahrscheinlich Absicht, um der sowjetischen Erpressung zu entgehen.

Zusätzlich hat die österreichische Neutralität verschiedenste "Väter", die oft einander widersprechende Ziele hatten; das hängt damit zusammen, dass die Besetzung/Befreiung Österreichs 1945-1955, die der Neutralität vorausging, eine Phase des Übergangs vom Zweiten Weltkrieg, in dem USA und UdSSR verbündet waren, zum Kalten Krieg, in dem USA und UdSSR verfeindet waren, war. Der Hintergedanke der USA bei der Unterstützung der Neutralität Österreichs war erstens, dass dadurch der Ostblock geschwächt wird (weil die Rote Armee aus Ostösterreich abzieht), zweitens, dass eben dieser Abzug weiteres Streben nach Unabhängigkeit (wie in Ungarn im Folgejahr 1956) im Ostblock auslösen wird, das wahrscheinlich brutal niedergeschlagen wird, und zu einer Diskreditierung der Sowjetunion führen wird, was es auch tat.

Der Hintergedanke der Sowjetunion bei der Unterstützung der österreichischen Neutralität war, dass im Zusammenhang mit der ebenfalls neutralen Schweiz ein Sperrriegel entsteht, der die NATO in zwei Hälften teilt, sodass rein formal Truppentransfers über den Brenner-Pass von Deutschland nach Italien oder umgekehrt, um einen Warschauer Pakt-Angriff auszubalancieren, unmöglich werden.

Allerdings wären wohl kaum sehr viele österreichische Soldaten bereit gewesen, ihr Leben zu opfern, nur um zu verhindern, dass NATO-Truppen von Deutschland nach Italien oder umgekehrt verschoben werden, sodass dieser Teil der Überlegung wohl reine Illusion war, so wie viele Überlegungen in diesem Zusammenhang. Vielleicht hat der KGB sogar einmal die Stimmung in Österreich erhoben und genau das festgestellt, dass die jungen österreichischen Männer praktisch nicht bereit sind, ihr Leben zu opfern, um Transfers über den Brenner zu verhindern, und vielleicht war es diese Bereitschaft der jungen österreichischen Männer zum Neutralitätsbruch, die die Sowjetunion vom Krieg abhielt und den Frieden in Europa sicherte, und nicht die Neutralität, wie Neutralitätsfetischisten behaupten.

Zu unterscheiden von der wirklichen Neutralität ist die "einseitig wohlwollende Neutralität", das ist, wenn ein neutrales Land mit einer Kriegspartei sympathisiert, so wie die formal-neutrale Schweiz in der Phase, als Nazideutschland stark war, sich als Waffenhändler Nazideutschlands und als Bank Nazideutschlands betätigte, auch um zu verhindern, dass es einen Überfall von Nazideutschland auf die Schweiz gibt; oder so, wie das angeblich neutrale Schweden Nazideutschland kriegswichtige Erze lieferte, um zu verhindern, dass Nazideutschland Schweden überfällt.

Auch Belgien oder Niederlande waren sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg neutral, was sie aber nicht schützte, sondern gefährdete, weil sie als Kleinstaaten ohne Verbündete ein leichtes Angriffsziel wurden: sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg wurden Belgien und Niederlande von deutschen Truppen überrannt.

Was dazu führte, dass Belgien und Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg die früher praktizierte Neutralität ablehnten und sich der NATO anschlossen. Die irische Neutralität ist ein Spezifikum und gar keine wirkliche Neutralität und hat eine anti-britische Note und den Hintergrund des Grenzstreit bzgl. Nordirland.

Ideologisch und wirtschaftlich stand Österreich im Kalten Krieg eher dem Westen nahe, Österreich war marktwirtschaftlich organisiert und pluralistisch-demokratisch, so wie Westeuropa, nicht planwirtschaftlich und Ein-Partei-Diktatur, so wie der Ostblock.

Und diese "neutralitätswidrige Neutralität" äußerte sich auch in den Verteidigungsdoktrinen; die österreichische Doktrin der Raumverteidigung von 1955 bis 1990 diente nämlich nicht der Verteidigung Österreichs, sondern der Verteidigung Deutschlands: ein Durchmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen durch das Donautal sollte durch das schwache österreichische Bundesheer verzögert (nicht verhindert!) werden, sodass NATO-Truppen in Deutschland bessere Chancen haben, den WaPa-Vormarsch zu besiegen.

In der Folge hätte ein Sieg der NATO wahrscheinlich auch die Möglichkeit geboten, dass das Donautal auf welchem Wege auch immer (z.B. Eroberung durch NATO und Rückgabe) wieder an Österreich kommt. So gesehen war Österreich natürlich ein Art inoffizelles NATO-Mitglied. Und die Finanzierung der Ausbildung der deutschen numerus-clausus-Flüchtlinge kann man als indirekten österreichischen Beitrag zum NATO-Budget betrachten.

Die unvermeidliche Schwäche des Österreichischen Bundesheers (weil Österreich ein neutraler Kleinstaat ohne Verbündete ist, der weder die Bevölkerung noch die Wirtschaftskraft hat, um eine konkurrenzfähige Armee zu unterhalten) spielte in zahlreichen Situationen eine Rolle: zum Beispiel 1968, als Warschauer-Pakt-Truppen den "Prager Frühling" militärisch niederzwangen, zogen sich österreichische Truppen von der Grenze weit zurück, statt sie zu verteidigen und sich an der Grenze zu positionieren, aus der Befürchtung heraus, ein kleiner Zwischenfall an der Grenze (z.B. ein übereifriger österreichischer Soldat schiesst ungerechtfertigt auf WaPa-Truppen in der Tschechoslowakei) würde einen Krieg zwischen Warschauer Pakt und Österreich auslösen, denn Österreich war militärisch krass unterlegen: 1:50 in der Bevölkerung, 1:100 in der Soldatenzahl, 1:200 bei Panzern, Flugzeugen, etc.

Bearbeitung von Location_NATO.svg: Ssolbergj - Location_NATO.svg https://de.wikipedia.org/wiki/Warschauer_Pakt#/media/Datei:Location_Warsaw_Pakt.svg

Größenverhältnisse zwischen dem neutralen und verbündetenlosen Österreich (blau) und dem viele Hundertmal größeren und stärkeren Warschauer Pakt-Ländern (rot, die DDR hellrot). Der Versuch, sich in so einer Situation zu verteidigen, ist aus klassischer Verteidigungslogik heraus sinnlos. Kann aber trotzdem aus Sicht von Symbolik und Aggressorbenennung sinnvoll sein.

In so einer Schwäche ist Krieg (auch ein gerechtfertigter Verteidigungskrieg) natürlich keine Option, es sei denn, man zielt auf den symbolischen Effekt ab und auf den Ächtungseffekt.

Der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg brachte die unvermeidliche Schwäche Österreichs im Jahr 1938 auf den Punkt, als er mit dem Spruch "Wir weichen der Gewalt!" die Entscheidung fällte, keinen Verteidigungskrieg gegen die militärisch übermächtige und zwischen 1934 und 1938 hochgerüstete deutsche Wehrmacht zu führen, weil ein solcher selbstmörderisch und chancenlos gewesen wäre.

Da im Falle von ohnmächtigen und unverteidigbaren verbündetenlosen Kleinstaaten wie Österreich ein Verteidigungskrieg sowieso sinnlos und chancenlos ist, neigen diese Kleinstaaten zu anderen Mitteln, sich zu "verteidigen": eine davon ist Tarnen und Täuschen und so zu tun, als wäre man bereits ein Teil des Aggressors oder kurz davor. Die SPÖ, die auch wegen des Austromarxismus die am weitesten links stehende Sozialdemokratie Europas war, dämonisierte oft die NATO und die EWG bzw. EG (Vorgänger der EU) als "ausbeuterischen, kapitalistischen Bürgerblock" und so ähnlich. SPÖ-Kanzler verteidigten Nordkorea, etc. nicht ernstgemeint, sondern nur mit dem Ziel, dass der Warschauer Pakt nicht Österreich überfällt, was er militärisch leicht hätte machen können. Man kann annehmen, dass zahlreiche SPÖ-Politiker in Vieraugengesprächen mit Ostblockpolitikern versicherten, Österreich werde schon bald Fortschritte machen auf dem Weg zum "Sozialismus", aber nur deswegen, um den Ostblock von einem Angriff abzuhalten, weil ein verbündetenloses Österreich militärisch unverteidigbar war und ist. D.h. die Verteidigung Österreichs beruhte immer mehr auf Lügen und Täuschungen als auf militärischer Verteidigung.

Auch der Bau der UNO-City diente in Wirklichkeit dazu, einen Angriff des Warschauer Pakts zu verhindern, weil noch nie in der Geschichte ein UNO-Sitz überfallen worden war, und weil ein derartiger militärischer Angriff auf einen UNO-Sitz medienstrategisch sehr negativ gewesen wäre.

So gesehen waren die Baukosten für die UNO-City die besseren und effektiveren Verteidigungsausgaben.

CC / Konstantinknoll https://de.wikipedia.org/wiki/Vienna_International_Centre#/media/Datei:Vereinte_Nationen_in_Wien.jpg

UNO-City in Wien-Kaisermühlen: die bessere Verteidigungspolitik als das österreichische Bundesheer, weil noch nie in der Geschichte ein UNO-Sitz überfallen worden war ?

Auch die Politik der österreichischen Regierung in Bezug auf Flüchtlinge bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, nämlich offiziell Flüchtlingsaufnahme zu verbieten, um den Ostblock nicht zu reizen, aber gleichzeitig dem Botschafter in Prag (Kirchschläger) zu signalisieren, dass er Flüchtlinge aufnehmen darf, passt in diese rhetorisch widersprüchliche Politik unverteidigbarer Kleinstaaten.

Der frühere deutsche Kanzler Helmut Schmidt (SPD) sprach einmal davon, dass man sich in der Krise "durchwurschteln" müsse und auf Verträge, Verfassungen und völkerrechtliche Regeln keine Rücksicht nehmen dürfe. Und dieses "Durchwurschteln" beschreibt sehr gut die Politik und Rhetorik des kleinen, unverteidigbaren, neutralen und verbündetenlosen Österreich in Zeiten der übermächtigen Militärblöcke.

Dieser übergeordnete Rechtsgrundsatz "Die Not kennt kein Gebot", bzw. das schon von den alten Römern anerkannte "necessitas non habet legem" ("Die Notwendigkeit akzeptiert kein Gesetz" ) macht auch Herumreitereien auf Verfassungsgrundsätzen (wie zum Beispiel der in der österreichischen Verfassung verankerten "umfassenden Landesverteidigung" ), wie von Beamten des Verteidigungsministerium praktiziert, so sinnlos.

Trotzdem versuchen immer wieder Nationalisten oder Neutralitätsfetischisten, so zu tun, als hätte einsame Verteidigung im Falle Österreich oder eine "Friedenspolitik" einen großen Effekt. Aber siehe oben: in außenpolitischen Fragen kann man das Volk so leicht belügen wie sonst kaum irgendwo.

Die NATO hat dadurch, dass sie die Sowjetunion auch durch den NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 totgerüstet hat oder auch durch das Star Wars-Programm von Ronald Reagan, wahrscheinlich mehr für Österreichs Sicherheit und Verteidigung getan, als das österreichische Bundesheer das jemals könnte.

Ganz absurd ist das bei besagter Bloggerin, die sich in einer BZÖ-Nähe befindet, auch weil das BZÖ mit seinem früheren Chef Jörg Haider, bzw. mit Ulrike Haider-Querzia eine große NATO-Nähe hatte, die getragen war von politischem Realismus, der dem heutigen BZÖ fehlt.

Ulrike Haider-Querzia war übrigens kurz BZÖ-Spitzenkandidatin, bevor sie wegen ihrer NATO-Befürwortung (ganz im Sinne Jörg Haiders) von den hemmungslosen und verantwortungslosen Populisten in dieser Partei abgeschossen wurde.

Es gehört zu den Skurrilitäten, dass sich Putin und Russland z.B. im Wahlkampf rund um das Verfassungsreferendum, das die Amtszeitverlängerung von Putin bis 2036 ermöglichen soll, lustig machen über das kleine und machtlose Österreich, während gleichzeitig unterwürfige und ahnungslose Rechtspopulisten die Möglichkeiten des kleinen Österreich krass überschätzen und Putin hofieren. Aber dieselben Rechtspopulisten sind es auch, die Putin lobhudeln (z.B. mit dem Buch "God bless You, Putin!" ) und gleichzeitig die Migrationswelle, die Putin durch sein diplomatisches und militärisches Engagement in Syrien auslöste, kritisieren.

https://kurier.at/politik/ausland/russland-so-klein-kreml-wirbt-mit-oesterreich-verweis-fuer-verfassungsreform/400942532

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Frank und frei

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