In den verschiedensten Zeitungen erscheinen ja derzeit die verschiedensten Prognosen und Umfragen:
Manche sprechen von einem Sieben-Parteien-Parlament, das in Österreich bevorsteht, andere von einem Drei-Parteien-Parlament (nur SPÖ, ÖVP und FPÖ schaffen den Einzug, alle anderen scheitern an der Vierprozenthürde).
Ich kann jetzt auf die Schnelle nicht beurteilen, welche Stimmigkeit diese Umfragen haben.
Aber auf jeden Fall eine Gefahr sehe ich schon: dass als Folge dieser Umfragen und der Vierprozenthürde und der Parteienzersplitterung ähnlich wie bei den Bundespräsidentenwahlen (insbesondere dem ersten Wahlgang) die taktischen Wähler und -innen in großer Zahl auftreten könnten und das Wahlergebnis verfälschen könnten.
Taktisches Wählen bedeutet zum Beispiel, wenn jemand wählt aufgrund folgender Überlegung:
"Ich würde ja am liebsten SPÖ wählen, aber weil die Liste Pilz jede Stimme braucht, um ins Parlament zu kommen, wähle ich stattdessen Pilz"
oder auch genau umgekehrt
"Ich würde ja am liebsten Pilz wählen, aber weil jede Stimme für die Liste Pilz eine verlorene Stimme sein dürfte, weil sie den Einzug ins Parlament und den Sprung über die Vierprozenthürde sowieso nicht schaffen dürfte, wähle ich stattdessen SPÖ, die den Sprung über die Hürde sicher schafft."
Genau dieselben Argumentationen kann es auch beim Doppel am politischen Gegenüber (ÖVP und NEOS) geben.
Mit anderen Worten:
es ist wahrscheinlich, dass es bei dieser Wahl den höchsten Anteil an taktischen Wählern gibt, den es jemals bei österreichischen Nationalratswahlen gegeben hat.
Wobei wie gesagt, die Problematik der taktischen Wählenden darin besteht, dass sie gar nicht ihre Lieblingspartei (aufgrund von Kandidaten oder Programmatik) wählen, sondern ihre zweit- oder drittliebste Partei in irgendeinem Zusammenhang mit der Vierprozenthürde, entweder Underdog-Effekt ("Diese Kleinpartei braucht jede Stimme" ) oder Bandwagon-Effekt ("Diese Großpartei wird den Einzug sicher schaffen, daher ist meine Stimme keine verlorene" ).
Auf der anderen Seite bedeutet das, dass sich bei der Wahl durch manipulative Umfragen und die dadurch irregeführten taktischen Wähler und -innen möglicherweise Mehrheiten ergeben werden, die sich gar nicht ergeben hätten, wenn es die Vierprozenthürde, die manipulativen Umfragen und die daraus resultierenden taktischen Wählenden nicht gäbe.
Und das heisst, dass nicht die Inhalte oder die Personen oder die Parteiprogramme die Wahlen entscheiden könnten, sondern die Vierprozenthürde, manipulative Umfragen und die daraus resultierenden taktisch Wählenden.
Das Phänomen ist unter Experten eigentlich bekannt, aber die Hoffnung vieler Experten, mit der sich die Problematik aus der Welt schaffen liesse, ist vielleicht die, dass Underdog-Effekt und Bandwagon-Effekt gleichgroß oder annähernd gleich groß sein könnten, auf jeden Fall so annähernd gleich groß, dass sich dadurch keine Mandatsverschiebungen ergeben, die mehrheitsändernd sind.
Aber das ist pure Hoffnung. Niemand weiß irgendetwas genaues darüber.
Es gibt keine Studien oder Untersuchungen dazu, diese wären wahrscheinlich sogar illegal, weil sie eine der Verfassungsgrundlagen, nämlich das geheime Wahlrecht verletzen würden.
Also segeln wir eigentlich hier völlig im Nebel, oder wir fliegen mit hoher Geschwindigkeit im Flugzeug, ohne Sicht und ohne Radar.
So gesehen hat der österreichische Rechtstheoretiker Hans Kelsen vielleicht doch recht, als er vom "aleatorischen Aspekt der Wahlen" sprach, wobei er allerdings eher das Mehrheitswahlrecht meinte.
"Aleatorisch" leitet sich vom lateinischen "alea" / Würfel ab, und bezieht sich auf die altrömische Vorliebe für das Würfelspiel.
So gesehen stellt sich die Frage, ob demokratische Wahlen reine Zufallsentscheidungen sind, bzw. stark vom Zufall beeinflusst, ob demokratische Wahlen eher dem Glücksspiel ähneln und weniger wirklich Entscheidungen der rationalen Wahl sind.
All diese Effekte und Legitimitätskrisen rund um die taktischen Wähler liessen sich durch ein Reihungswahlrecht a la Condorcet, Borda oder Schulze aus der Welt schaffen. Alle diese Wahlsysteme sind viel weniger bzw. überhaupt nicht anfällig für taktisches Wählen.
Bei diesen Wahlen wählt man nicht die Lieblingspartei oder die, die man aufgrund wahltaktischer Überlegungen der ideologischen Lieblingspartei vorzieht, sondern man reiht alle Parteien: diese Partei ist mir am liebsten, jene am zweitliebsten, etc.
P.S.: bei der deutschen Bundestagswahl wurden AfD und FDP, die bei der Bundestagswahl 2013 knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten, vielleicht nur deswegen so stark, weil viele traditionelle CDU/CSU-Wähler diesmal per Leihstimme die AfD und FDP wählten, so nach dem Motto "Eigentlich wäre mir CDU oder CSU am liebsten, aber damit die AfD bzw. die FDP nicht knapp die Fünfprozenthürde verfehlen und überhaupt nicht im Parlament vertreten sind, wähle ich diesmal AfD bzw. FDP".
https://de.wikipedia.org/wiki/Schulze-Methode
https://de.wikipedia.org/wiki/Borda-Wahl
https://de.wikipedia.org/wiki/Condorcet-Methode
Polemisch könnte man auch sagen: "Wie kaputt und undemokratisch ist unser Wahlsystem ?"
Im Zuge der US-Präsidentschaftswahl des Jahres 2000, der Knappheit, der Recounts (Nachzählungen) war geprägt durch den im deutschsprachigem Raum starken Antiamerikanismus eine starke Häme gegenüber den USA vernehmbar, so a la: "Diese vertrottelten Amerikaner, die können nicht einmal richtige Wahlen abhalten"
Aber die Frage, die sich angesichts des mutmaßlich hohen Anteils der irregeführten taktisch Wählenden ergibt, könnte man fragen: Können wir Österreicher (oder Deutsche) richtige Wahlen abhalten ?
Ein Zweiparteiensystem wie in den USA hat gewisse Vorteile gegenüber den zentraleuropäischen Demokratien.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_den_Vereinigten_Staaten_2000
P.S.: in "Normalen" Demokratien gibt es genau deswegen ein Umfragepublikationsverbot z.B. zwei Monate vor der Wahl.
Aber in Österreich (insbesondere der Medien- und Politikhauptstadt Wien) scheinen Politisch-Mächtige und Medien so eng verfilzt und "verhabert" (In Freunderlwirtschaft verbunden) zu sein, dass ein vergleichbares Gesetz in Österreich bis heute keine Chance hatte.
Was der eigentlichen Aufgabe der Medien widerspricht: die Medien sollten als "vierte Gewalt" eine kontrollierende Funktion haben und nicht wie so manches Medium den Politisch-Mächtigen zuliebe falsche, irreführende und manipulative Umfragen verbreiten.