In Österreich erinnert sich heute kaum mehr jemand daran, was der heutige türkische Präsident Erdogan in den 1990er Jahren sagte. Aber ich schon.

Damals, so ca. 1997, sagte Erdogan als Bürgermeister von Istanbul: "Die EG ist ein Christenklub, der Muslime ausgrenzt" (wobei die EG die Vorläuferorganisation der EU war, vor 2001)

Was bedeutet das nun für die neue Flüchtlingskrise für die Sager von Bundeskanzler Kurz "Die EU darf das Spiel von Erdogan nicht mitspielen" und von Nationalratspräsident Sobotka "Die EU darf sich nicht von Erdogan erpressen lassen" ?

In der Türkei erinnern sich heute noch viele Hunderttausende oder Millionen an diesen alten Sager von Erdogan aus den 1990er Jahren.

Wenn die EU also das machen würde, was Kurz, Sobotka und FPÖ fordern, nämlich Grenzen-Dicht-Machen und Keinen-Muslim-Reinlassen, dann würde das genau das bestätigen, was Erdogan vor ca. 23 Jahren sagte.

Und viele Türken und Türkinnen würden über Erdogan denken "Was für ein Prophet! Erdogan hat das schon vor 23 Jahren vorhergesehen!"

Und genau das kann seine Macht für lange Zeit und auch die Macht seiner Partei über seinen Tod hinaus sichern.

Also, Kurz und Sobotka und FPÖ spielen mit ihrer Position Erdogan und seiner Partei möglicherweise in die Hände und verhindern vielleicht die historische Chance, dass Erdogan abgewählt werden könnte, und eine weniger oder gar nicht islamische Partei an Macht gewinnt. Kurz war damals 10 Jahre alt, so gesehen wird man ihm im Falle des Falles am wenigsten den Vorwurf machen können, sich nicht mehr zu erinnern. "Gnade der späten Geburt", die alte Helmut-Kohl-Formulierung, schrieb eine deutsche Zeitschrift und bezog sich dabei auf die deutsche Regierung, nicht auf Sebastian Kurz.

So gesehen spielen Kurz, Sobotka und FPÖ möglicherweise Erdogans Spiel, indem sie behaupten, nicht Erdogans Spiel spielen zu wollen.

Frei nach Karl Kraus: sie könnten die Verschärfung der türkischen Probleme sein, für deren Heilung sie sich halten.

Trotzdem ist es vielleicht ganz gut, dass es zumindest ein Land in der EU gibt, das eine derartige erdogankritische Position vertritt. Mit anderen Worten: es ist vielleicht ganz gut, dass es keine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik gibt, wie gemäß GASP eigentlich auf EU-Ebene angedacht.

Falls die ganze EU eine derartige Grenzschliessungspolitik betreiben sollte, dann sollte man sich ein wirkliches gutes Wording, eine Begründung oder Junktimierung einfallen lassen, die diesen "Propheten-Effekt" verhindert.

Warum erinnere ich mich im Gegensatz zu den allermeisten Österreichern (inklusive Politikern und Journalisten) an diesen alten Sager von Erdogan aus den 1990er Jahren ?

Weil das der Türke sagte, der mir in den 1990er Jahren eine Verletzung zufügte.

Ich wusste damals nicht Bescheid über einen möglichen Zusammenhang mit Erdogan.

Und erst 18 Jahre später, im Jahre 2015, als Erdogan seinen Wien-Besuch machte und in der Dusika-Halle eine Rede hielt, recherchierte ich sein Leben noch einmal nach und kam drauf, dass er in den 1990er Jahren genau dasselbe gesagt hatte wie mein Attentäter, sodass sich die Frage einer Bestimmungstäterschaft von Erdogan stellte.

Ich habe damals mit meinem Anwalt darüber gesprochen, aber wir haben es bleiben lassen. Ich hatte genug Politikwissenschaft studiert, um die Wiener Diplomaten-Konvention zu kennen und Ähnliche, die es schwer bis unmöglich macht, einem Staatspräsidenten ein Aufenthaltsverbot für die gesamte Republik Österreich oder die gesamte EU wegen einer etwaigen Bestimmungstäterschaft aus den 1990er Jahren aufzuerlegen.

Außerdem gab es außer meiner Erinnerung keine unabhängigen Quellen und keine objektiven Beweise, dass mein Attentäter genau denselben Satz gesagt hatte wie Erdogan damals.

Um genau zu sein, bin ich nicht einmal hundertprozentig sicher, ob Erdogan diesen Sager kurz vor dem Attentat auf mich machte oder kurz danach.

Aber die erste bestätigte Quelle, die ich mit meinen mangelhaften Türkisch-Kenntnissen für dieses Zitat ausfindig machen konnte, war ungefähr zeitgleich, aber es könnte auch sein, dass es frühere bestätigte Quellen für diesen Sager gab, dass er das schon früher gesagt hatte.

CC / US State Department https://de.wikipedia.org/wiki/Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan#/media/Datei:Recep_Tayyip_Erdogan_2017.jpg

Türkischer Präsident Erdogan: großer Profiteur der von Kurz, Sobotka und FPÖ geforderten Grenzschliessung, weil er vor ca. 23 Jahren gesagt hatte " Die EU ist ein Christenklub, der Muslime ausgrenzt", was ihm und seiner Partei auf lange Zeit die Macht sichern könnte und Wahlsiege der weniger oder gar nicht islamischen türkischen Oppositionsparteien unmöglich machen würde ?

Viele Türken und Türkinnen könnten eine Grenzschliessung verstehen oder mißverstehen als Abwendung der EU und sich mehr am Osten, am Islam orientieren.

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Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 07.03.2020 22:53:58

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