Die Gemeinderatswahl in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs und der steirischen Landeshauptstadt, brachte das, was Viele als eine Überraschung empfanden: die kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) wurde mit ca. 30% und einem Plus von ca. 10% die stimmenstärkste Partei, während die bisherige Bürgermeisterpartei ÖVP (mit Bürgermeister Nagl) eine herbe Niederlage hinnehmen musste: sie verlor mehr als 12% der bisherigen 37.8% der letzten Wahl.
Das Spezifikum der Grazer KPÖ war, dass sie sich schon frühzeitig von der Wiener Zentrale lossagte und eine eigenständige Kommunalpolitik betrieb, hauptsächlich in Zusammenhang mit dem Wohnthema.
Während zahlreiche Kommentatoren und Kommentatorinnen diese Wahl mit dem KPÖ-Erfolg als Absage an die Bundespolitik bezeichnet haben (wogegen allerdings der ÖVP-Zugewinn bei der oberösterreichischen Landtagswahl spricht), könnte ein ganz anderer Aspekt ausschlaggebend gewesen sein: nämlich dass Grazer ÖVP und FPÖ in der vergangenen Legislaturperiode der KPÖ das Wohnressort entzogen und das Verkehrsressort zuordneten. Auch das Ansetzen vorgezogener Neuwahlen durch die ÖVP könnte stark zu ihrer Niederlage beigetragen haben. In den USA sind vorgezogene Neuwahlen prinzipiell unmöglich, was man auch als Machtbegrenzung der Regierungspolitik betrachten kann.
So gesehen ähnelt dieser KPÖ-Wahlerfolg dem Wahlerfolg Jörg Haiders für die kärntner FPÖ 1999 nach seiner Abwahl durch den Landtag 1991 wegen eines historisch-seltsamen Sagers, der aber für die Tagespolitik ohne Bedeutung war. Damals hatte Jörg Haider 42% der Stimmen erreicht und wurde wieder Landeshauptmann, nachdem er von der SPÖ-ÖVP-Mehrheit im Landtag abgewählt worden.
Diese beiden Wahlen zeigen so gesehen, dass die Wähler und Wählerinnen Machtmissbrauch durch regierende, bzw. dominierende Parteien gar nicht schätzen, bzw. hart bestrafen. So gesehen sind es auch keine ideologischen Verschiebungen oder Wählerstrome, die durch bedeutende, beispielsweise internationale Themen verursacht wurden, sondern Reaktionen mit Protestwahlcharakter auf demokratisch-problematische Handlungsweisen der Regierenden.
https://www.derstandard.at/story/2000129943801/ein-spannender-wahltag-in-graz
Die Grünen verzeichneten starke Gewinne, mit einem Zuwachs von 10.5 auf 17.2%.
Die FPÖ verlor 5% und hat nun 10.9%. Auch dieser Rückgang ist möglicherweise zum Teil eine Wählerstrafe dafür, dass die FPÖ zusammen mit der ÖVP der KPÖ das Wohnressort weggenommen hatte.
Die SPÖ verliert 0.5% und landet bei rund 9.5%.
Die NEOS konnten von ca. 4% auf ca. 5% zulegen.
Ansonsten dürfte keine Partei den Einzug in den Gemeinderat schaffen, weder die Piratenpartei, noch die Impfgegnerpartei.
Auch dieser Bericht des ÖVP-kontrollierten ORF sieht die Ursache für die Wahlniederlage alleine darin, dass die ÖVP - obwohl sie angeblich inhaltlich und politisch alles richtig gemacht hätte - einen falschen Wahlkampf geführt hätte, nämlich zuwenig die eigenen Erfolge herausgestrichen hätte und zuviel vor Rot-Rot-Grün gewarnt hätte. Dass die ÖVP abgesehen von Wahlkampfkleinigkeiten irgendwas falsch gemacht haben könnte und verdientermaßen abgewählt worden sein könnte, darf hier nicht einmal als Denkmöglichkeit vorkommen.
Außerdem dürfte es wohl umgekehrt gelaufen sein, als dieser ORF-"Bericht" behauptet: die ÖVP startete mit einem Erfolge-Herausstreichungs-Wahlkampf, aber die rein-parteiinternen Umfragen deuteten wohl darauf hin, dass die ÖVP abzustürzen droht, und daraufhin wechselte die ÖVP wohl zu einem Rot-Rot-Grün-Warnwahlkampf, der allerdings die Niederlage auch nicht verhinderte. Nach dem derzeitigen Mandatsstand dürfte sich eine theoretische Koalition KPÖ-Grüne mit 24 von 48 Mandaten knapp nicht ausgehen.
Diese beiden Wahlen können als Bestätigung für ein Diktum des Historikers Lord John Acton gesehen werden: "Macht tendiert dazu, zu korrumpieren, und absolute Macht tendiert dazu, absolut zu korrumpieren".
Und in einer Demokratie haben die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme die Möglichkeit, ein Gegengewicht zu dieser Korrumpierung durch Macht zu bilden.
Ein weiterer möglicher Grund für die Verluste von ÖVP und SPÖ ist das von diesen beiden Parteien beschlossene Plakatverbot für den Wahlkampf: Plakatwahlkampf ist ein wichtiges Instrument der Kleinparteien, während die etablierten Parteien, bzw. Großparteien oftmals die Massenmedien wie Fernsehen, Radio oder Zeitungen entweder in ihrer Hand haben, wie die ÖVP beim ORF oder als Sympathisanten haben. Ein Plakatwahlkampfverbot ist also eine strukturelle Benachteiligung der Newcomer und der Aussenseiter, hingegen eine Bevorzugung der Etablierten. Die Verluste von ÖVP und SPÖ können auch als Protest gegen dieses Wahlkampfverbot für Kleinparteien und Newcomer verstanden werden.
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Blick vom Grazer Wahrzeichen Uhrturm auf die Stadt: Graz ist bekannt für sein städtisch-wechselwählerisches Verhalten, in dem auch wegen des kleinparteienfreundlichen Wahlrechts Kleinparteien mit rund 2% gute Chancen auf Einzug haben. Diesmal aber nicht, diesmal scheint Elke Kahr/KPÖ alle Kleinparteienwähler aufgesaugt zu haben.
Und Graz ist eine bunte Stadt, insofern, als im Laufe der Geschichte drei verschiedene Parteien den Bürgermeister stellten: SPÖ (z.B. Speck, Stingl), ÖVP (z.B. Hasiba, Nagl), FPÖ (Götz). Nun könnte eine vierte Partei in Graz möglicherweise die Bürgermeisterin stellen, an wahrscheinlichsten die KPÖ. Elke Kahr wäre damit auch die erste Bürgermeisterin in Graz.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinderatswahl_in_Graz_2021
Es war übrigens wieder einmal ein Debakel der Veröffentlichungen der Meinungsforschungsinstitute, die die ÖVP um ca. 10% höher bewertet hatten, als sie dann bei den Wahlen erreichte, eine Abweichung, die weit über der 3%-Schwankungsbreite bei reiner Mathematik, 95%-Konfidenzintervall und großer Stichprobe ist.
Die acht Meinungsforschungsinstitute, die zwischen März 2020 und September 2021 diese Umfragen machten, prognostizierten die ÖVP zwischen 30 und 38.4% (während sie in Wirklichkeit 25.91% erreichte) und die KPÖ zwischen 17.7 und 25.4%, während sie in Wirklichkeit 28.8% erreichte.
Laut manchen Insiderinformationen aus zeitungsredaktionen gab es zwar Umfragen, die den Wahlerfolg der KPÖ prognostizierten und den Absturz der ÖVP, aber diese wurden für so unglaubwürdig gehalten von so mancher Zeitungsredaktion, dass sie nciht publiziert wurden, auch aus der Annahme heraus, dass es die KPÖ unmöglich schaffen werde, diese Werte bis zum Wahltahg zu halten. So gesehen trifft die Schuld an der Publikation von irreführenden Umfragen nicht nur die Umfrageinstitute, sondern auch die Medien, die über die Publikation von Prognosen entscheiden und oft diejenigen Umfragen als unpublizierbar einstufen und nicht publizieren, die ihnen als zu unglaubwürdig erscheinen. Ein Korrektiv für solcherart unterdrückte, richtigliegende Umfragen wäre eine gesetzlich verankerte Freigabe der Publikation bei Ablehnung durch den Auftraggeber, bzw. die ihm nahestehenden Medien.
Dieser Fall der weit danebenliegenden Umfragen für Graz ist nach dem ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl ein weiteres Argument, die Veröffentlichung von Meinungsumfragen kurz vor der Wahl zu verbieten, denn diese Umfragen verändern die Meinung und machen sie, statt sie zu erheben. Diese Meinungsumfragen vermittelten den Eindruck, die ÖVP würde sowieso gewinnen, weshalb vermutlich zahlreiche ÖVP-Wahlerinnen und -Wähler nicht zur Wahl gingen, vermutlich auch ein Grund, warum die ÖVP verlor.
Ähnlich wie in Grenzbereichen der Physik, wie beispielsweise der Heisenberg´schen Unschärferelation beeinflussen die veröffentlichten Messungen und Umfrage das zu messende Objekt so stark, dass "Messung" gar keinen Sinn mehr macht.
Meinungsumfragen kurz vor der Wahl sind so gesehen Watzlawick´sche "Selbstwiderlegende Prophezeihungen". Siehe auch Konstruktivismus.