Ersatzstimme zur Vermeidung eines hohen Anteils an unwirksamen Stimmen

Es könnte sein, dass es bei dieser österreichischen Nationalratswahl 29.9.2024 einen rekordhaft hohen Anteil an unwirksamen Stimmen gibt, also an Stimmen für Parteien unter der Vierprozenthürde.

Bisher war der Rekord an unwirksamen Stimmen bei österreichischen Nationalratswahlen bei ca. 6%.

D.h. 6% der Stimmen wurden bei diesen Wahlen abgegeben für Parteien unter der Vierprozenthürde.

Es gibt einen ähnlichen Fall in Deutschland: bei der deutschen Bundestagswahl 2013 gab es ca. 16% unwirksame Stimmen: AFD und FDP hatten damals knapp die Fünfprozenthürde verfehlt, die Piratenpartei mit ca. 2.2% und einige weitere Parteien kamen noch dazu.

Scheinbar hat es damals innerhalb der Piratenpartei sowas gegeben wie Tendenzen zum Terrorismus wegen der Fünfprozenthürde und wegen dem oftmaligen Scheitern an dieser.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat in Reaktion auf diesen rekordhaft hohen Anteil an unwirksamen Stimmen die Fünfprozenthürde für die EU-Wahl als verfassungswidrig aufgehoben.

Laut politikwissenschaftlicher Lehre dient die Fünfprozenthürde (oder Vierprozenthürde) dazu, die Parteienzersplitterung zu verhindern und arbeits- und regierungsfähige Parlamente zu schaffen.

Aber es ist sehr fraglich, ob dies tatsächlich funktioniert, oder ob nicht die negativen Nebenwirkungen betragsmäßig größer sind als die positiven Folgen - siehe 16% unwirksame Stimmen 2013 in Deutschland und folgendes Urteil des BVerfG zur Aufhebung der Hürde bei EU-Wahlen. Wobei niemand gedacht hatte, dass der Anteil an unwirksamen Stimmen tatsächlich so weit rauf gehen könnte.

Deutschland kann die Fünfprozenthürde bei EU-Wahlen aufheben, weil es ein so großes Land ist, das ca. 80 Abgeordnete stellt, während Österreich viel weniger Abgeordnete stellt, ca. 18, sodass alleine schon die "natürliche" Hürde ein 18-tel, also ca. 5.3% beträgt.

So gesehen stellt sich die Frage, wie Österreich, wie der österreichische Verfassungsgerichtshof oder die österreichische Politik reagieren könnte, falls sich einmal eine derart oder ähnlich hohe Zahl an unwirksamen Stimmen bei der Bundesparlamentswahl ergibt:

der Verfassungsgerichtshof könnte zum Beispiel alle Landtagswahlordnungen aufheben, bzw. die oft hohen Eintrittshürden dort.

Manche Landtage haben 56 Mitglieder, was einer "natürlichen" Hürde von ca. 1.8% entspräche. Der Wiener Landtag/Gemeinderat hat 100 Mitglieder, was einer natürlichen Hürde von 1% entspräche.

Aber der Verfassungsgerichtshof könnte auch die Nationalsratswahlordnung als verfassungswidrig aufheben, wegen eines hohen Anteils an unwirksamen Stimmen.

Die Frage ist: was macht der Gesetzgeber dann ? Was könnte er machen ?

Eine Möglichkeit ist die sogenannte Ersatzstimme. D.h. insbesondere die Wähler und Wählerinnen von Kleinparteien oder Kleinstparteien erhalten eine Hauptstimme für die Partei, die ihnen ideologisch oder personell am liebsten ist, wobei sie sich dabei keine Gedanken darüber machen müssen, ob diese Partei auch Chancen hat, die Hürde zu übersteigen oder nicht.

Und falls diese Hauptstimmenpartei den Einzug verfehlt, wegen Unterschreitens der Hürde, so würde die Ersatzstimme aktiv, also die Stimme, die dem Wähler oder der Wählerin am zweitliebsten war, bzw. am liebsten unter allen Parteien, denen er/sie gute Chancen einräumt, die Hürde zu überspringen.

Die Möglichkeit einer derartigen Ersatzstimme ist zwar ein geringer Mehraufwand für die Wahlbehörden und Wahlkommissionen, aber eine derartige Ersatzstimme ist ein sinnvolles Mittel, um möglichst viele Stimmen zu wirksamen Stimmen zu machen.

Genau das ist ja ein wesentliches Kriterium der Demokratie und eines Wahlsystems: den Anteil der unwirksamen Stimmen möglichst gering zu halten, und möglichst viele Stimmen zu wirksamen Stimmen zu machen.

Ein besonders pikanter Aspekt bei dieser Wahl ist folgender: die Parteienzersplitterung findet insbesondere auf der Linken statt, nicht auf der Rechten.

Normalerweise ging man früher ja davon aus, dass die Parteienzersplitterung ein Phänomen beider Extreme sei, dass sowohl am linken wie auch am rechten Rand des Parteienspektrum sich Selbstzerfleischungsprozesse ergeben, mit vielen Abspaltungen, etc.

Und wenn die Parteienzersplitterung symmetrisch ist, also auf der Linken in etwa genauso groß wie auf der Rechten, dann verändern die Kleinstparteien, die an der Hürde scheitern, das Kräfteverhältnis zwischen Links und Rechts nicht oder kaum.

Aber wenn es wie bei dieser Wahl vermutlich eine starke Parteienzersplitterung auf der Linken, aber keine auf der Rechten gibt (weil die FPÖ alles aufsaugt, was da auf der rechten/extremen Rechten ist), dann passiert etwas sehr seltsames: Stimmen für linke Klein- und Kleinstparteien, die an der Hürde scheitern, werden primär umgewandelt in FPÖ-Mandate (aber zweitrangig in ÖVP-Mandate, drittrangig in SPÖ-Mandate, laut derzeitigen Umfragen, etc.).

Oder anders gesagt: Stimmen für FPÖ-Gegner werden durch "unser" Wahlsystem umgewandelt in FPÖ-Mandate. Was irgendwie schon ziemlich pervers ist.

Auch hier könnte eine Ersatzstimme diesen Effekt vermindern, bzw. stark vermindern. Aber es gibt auch andere Ansätze: in der Schweiz zum Beispiel gibt es Wahllistenverbindungen. D.h. Kleinparteien oder Kleinstparteien können auch nach der Wahl Wahllistenverbindungen eingehen, um gemeinsam zu den Mandaten oder zu dem Mandat zu kommen, das/die sie alleine nicht erreichen. Hier liegt die Entscheidung bei den Parteien/Parteieliten, und nicht beim einzelnen Wähler bzw. der einzelnen Wählerin.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_2013

https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_2013

Hier die deutsche Bundestagswahl 2013 mit rekordhaft hohem Anteil an unwirksamen Stimmen (Hürde eingezeichnet als grauer Balken), was der Grund war für das deutsche Bundesverfassungsgericht, die Fünfprozenthürde für die EU-Wahlen für verfassungswidrig zu erklären.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Homepage/homepage_node.html

deutsches Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: mit seiner 2013-Entscheidung vorbildgebend für österreichischen Verfassungsgerichthof, eine wie-auch-immer-geartete Reaktion zu setzen, für den Fall, dass sich bei dieser österreichischen Nationalratswahl ein rekordhaft hoher Anteil an unwirksamen Stimmen ergibt ?

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