Als Reaktion auf die FPÖ-Vorstellungen zur direkten Demokratie hat sich bei einer Juristentagung, die vom Kurier verarbeitet wurde, Heinz Fischer, der frühere österreichische Bundespräsident, zu Wort gemeldet.
https://kurier.at/politik/inland/heinz-fischer-mobilisiert-gegen-ja-nein-demokratie/297.572.914
Der Irrtum besteht schon in der Grundannahme, dass direkte Demokratie auf Ja/Nein-Entscheidungen beruhe.
Das Konzept der eigentlich von französischen Personenwahlen rund um das Jahr 1800 (Condorcet, Borda) herrührenden Reihungswahlen (Präferenzwahlen) kann man auch auf direkte Demokratie (Volksbefragung und Volksabstimmung) übertragen.
Ein Beispiel:
Bei einer Volksabstimmung gibt es drei Möglichkeiten:
1.) Alle streng korangebundenen Varianten des Islam sollen alle Rechte behalten, die anerkannte Religionen in Österreich geniessen.
2.) Alle streng korangebundenen Varianten des Islam sollen alle Rechte verlieren, die anerkannte Religionen in Österreich geniessen.
3.) Alle streng korangebundenen Varianten des Islam sollen manche der Rechte verlieren, die anerkannte Religionen in Österreich geniessen.
(Alternativ käme die Fragestellung nach "allen streng traditionsgebundenen oder allen streng ursprungsschriftgebundenen Religionen" in Frage)
Jede/r Wahlberechtigte bekommt die Möglichkeit zu reihen, d.h. seinen Willen auszudrücken z.B. in der Form:
"Möglichkeit 1 ist mir am liebsten. Möglichkeit 3 am zweitliebsten."
oder "Möglichkeit 2 ist mir am liebsten. Möglichkeit 3 am zweitliebsten."
Diese Reihungen werden von den Wahlbehörden gesammelt und dann ausgewertet, beispielsweise in der Form:
Alle Stimmen, die auf die Option mit den wenigsten Erstreihungen entfallen, werden auf die Zweitgereihte Option übertragen. Von den beiden verbleibenden Optionen gilt diejenige, auf die am meisten Stimmen entfallen, als "siegreich".
Das ist dann direktdemokratisch, aber keine Ja/Nein-Entscheidung mit nur zwei Möglichkeiten, sondern eine Ja/Nein/Mittel-Entscheidung mit drei Möglichkeiten.
Moderate Interpretationen des Islam (wie z.B. Aleviten) wären durch die Fragestellung nicht betroffen, weil sie ja nicht "streng korangebunden" sind. Ähnliches gilt für zeitgemäße und kulturgemäße Interpretationen. Ob eine derartige Fragestellung, die damit zusammenhängt, ob Ideologien, die keine Trennung zwischen Kirche und Staat anerkennen, überhaupt als Religionen einzustufen sind, zulässig ist, könnte der Verfassungsgerichtshof entscheiden, zusätzlich zur Frage der prinzipiellen Verfassungskonformität. Eine automatische Prüfung von Volksabstimmungsvorlagen beim Verfassungsgerichtshof würde aber u.U. eine etwas höhere Hürde bei der Einleitung erfordern, um eine Gerichtsüberlastung zu vermeiden. Europafragen könnten ja aus Komplexitätsgründen ausgenommen sein von der Möglichkeit der Volksabstimmung. Mindestwahlbeteiligungen (z.B. 50%) als Voraussetzung für die Gültigkeit könnten vorgesehen werden. Dem VfGH könnte auch eine Prüfkompetenz auf "manipulative Fragestellung" gegeben werden.
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit wäre eine teilweises Rauchverbot z.B. mit einer Versteigerungslösung (Gebote pro Quadratmeter Geschäftsfläche). Der Prozentsatz wird in einer Volksabstimmung festgelegt, bei der von 0% bis 100% Raucherlokalanteil 11 Möglichkeiten bestehen (also in 10%-Schritten) und dann implizites Reihungswahlrecht angewandt wird, also z.B. "Am liebsten 30%, am zweitliebsten 20% oder 40%, am drittliebsten 10% oder 50%, etc." ). Wenn für Raucher die Möglichkeit besteht, in Lokalen zu rauchen, dann könnte das das Passiv-Rauchen zuhause oder am Arbeitsplatz reduzieren (man bräuchte vielleicht eine Zusatzregelung für nicht-rauchende Gastronomie-Angestellte, die nicht in einem Raucherlokal arbeiten wollen, und entweder wechseln oder aufhören wollen). Laut verschiedenen Berichten sind Kinder besonders gefährdet durch Passivrauchen. Als Begleitmaßnahme könnte auch ein Rauchverbot in privaten Haushalten mit Kindern vorgesehen werden. Die Thematisierung der Gefahren des Rauchens in der Debatte vor der Abstimmung kann eine signifikante Verringerung der Zahl der Raucher bringen und u.U. mehr bewirken als Anti-Raucher-Kampagnen, die oft als bevormundend empfunden werden. Wirte, die in Raucherabteilstrennungen investiert haben, sollen entschädigt werden. Neue Lokale müssen Nicht-Raucher-Lokale sein. Mehrere Fragen bzw. Abstimmungen sollten aus administrativen und Kosten-Gründen zusammengelegt werden. Wenn die Wirte von Raucherlokalen die Ersteigerungskosten weitergeben, so hätte das auch einen Lenkungseffekt.
Auch, was das Mehrheitsprinzip im Parlamentarismus betrifft, so könnte Fischer falsch liegen. Hans Kelsen vertrat durchaus die Meinung, dass eine einfache Mehrheit (als 92 von 183 Mandaten) für einfache Gesetze ausreichend sei. Verschiedene Parteien, darunter die SPÖ, haben in der Geschichte Österreichs Entscheidungen mit knapper Mehrheit beschlossen.
Fischers Anti-Volksabstimmungs-"Argument" "Wenn sich die Mehrheit ohne konkrete Spielregeln nach dem Prinzip der lautesten Stimme in einem emotionalisierten öffentlichen Raum bildet, bringt das nicht immer das beste Resultat für das Land." gilt genauso auch für die repräsentative Demokratie. Auch Parlamentswahlen bzw. Parlamentswahlkämpfe sind oft geprägt von Emotionen, Vorwürfen, Verdachtsmomenten, Bluffeffekten, Ängsten, etc.
Auch der von Fischer behauptete Gegensatz zwischen "Volk" und "Parlament" besteht nicht, bzw. muß so nicht bestehen. Beispielsweise kann dem Parlament die Möglichkeit gegeben werden, z.B. dreimal pro Legislaturperiode (oder in fünf Jahren) eine Volksabstimmung zu "overrulen", mit welcher Mehrheit auch immer. Debatten vor Volksabstimmung werden - wie auch das Beispiel Schweiz zeigt - großteils von repräsentativ-demokratischen Politikern und -innen getragen, sodass zumindest kein großer Gegensatz zwischen repräsentativer und direkter Demokratie besteht.
Fischers "Argument", dass mehrheitsfähige Emotionen oder Interessen nicht immer mit der besten Lösung für das Land seien, stimmt für Mehrheiten bei Volksabstimmungen genauso wie für Mehrheiten bei Parlamentswahlen. Daher trifft diese Kritik direkte Demokratie und repräsentative Demokratie in gleichem Maße.
Auch Fischers Kritik an sogenannten "Automatismen", die durch eine mögliche schwarz-türkis-blaue Regierung möglicherweise kommen, ist nicht ganz nachvollziehbar: da Politiker wie z.B. der Wiener Bürgermeister Häupl (SPÖ) Volksbefragungen (2010, 2013) schon vorher für bindend erklärten (was dem eigentlichen Sinn des Volksbefragungsinstrument widerspricht), ist das ein bereits BESTEHENDER Automatismus, der das entsprechende Parlament "ausschaltete".
Die "unerklärlichen Zusammenhänge zwischen der Höhe von Inseratenaufträgen und Blattlinie" gibt es auch in umgekehrter Richtung: dass Parteien ihre Programmatik den Forderungen von Medieninhabern anpassen. Ein Beispiel dafür war, dass der damalige SPÖ-Parteiobmann und Kanzler Faymann die Forderung nach einer Vermögenssteuer fallen liess, wohl in der Hoffnung, die Unterstützung der "Kronenzeitung" und ihrer Eigentümer, der Dichands, zu erhalten.
So gesehen könnte die repräsentative Demokratie viel anfälliger gegenüber Medienmacht sein als die direkte Demokratie.
© Arne Müseler / arne-mueseler.de / CC-BY-SA-3.0 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Heinz_fischer_2015_wien_1.jpg
(Der frühere österreichische Bundespräsident Heinz Fischer 2015)
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Fischer
Zu Heinz Fischer:
Die Umstände, wie Heinz Fischer im Jahr 2002/2003 zum Bundespräsidentschaftskandidaten der SPÖ wurde, sind immer noch ungeklärt, obwohl Transparenz an und für sich eine Eigenschaft der Demokratie sein sollte.
Beobachter gehen davon aus, dass er im Jahr 2000 im SPÖ-Bundesparteivorstand, bzw. bei verschiedenen Vorbesprechungen dazu, zum Beispiel im Wiener Rathauskeller, gegen die eigene Überzeugung nicht gegen Alfred Gusenbauer gestimmt haben könnte, aus Angst, ansonsten die Bundespräsidentschaftskandidatur zu verlieren. (Wie ich schon in einem Blog vor mehreren Jahren ausführte)
Wie das Leben so spielt: gerade heute erscheinen Medienberichten, wonach Alfred Gusenbauer auch wegen der Verwicklung in die Silberstein-Affäre alle Partei-Funktionen verliert, zum Beispiel die Führung des Karl-Renner-Instituts.
https://kurier.at/politik/inland/gusenbauer-muss-spoe-akademie-verlassen/297.749.121
http://orf.at/stories/2414600/
http://www.heute.at/politik/news/story/Kern-uebernimmt-Renner-Institut---Gusenbauer-geht-48503815