DI Dr. Klaus Woltron, dessen sonstige Artikel ich oft sehr schätze, schrieb in der Sonntagbeilage der Krone einen Artikel mit dem Titel "Ich bin schon wieder betrogen worden!"
Dabei macht er zahlreiche Fehler und Weglassungen.
D:K. / Krone
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1.) Er behauptet, es sei Wählertäuschung, wenn vor der Wahl angebliche oder wirklcihe "Spitzenkandidaten" präsentiert würden (wie Weber und Timmermans), aber nachher irgendwer anders EU-Kommissionspräsident bzw. -in würde wie z.B. Ursula Von der Leyen.
Dagegen kann oder muss man einwenden, dass
a) die EU kein Zentralstaat mit gemeinsamen Parteien ist, sondern laut Erkenntnis verschiedener Verfassungsgerichtshöfe "ein Staatenverbund sui generis". Und wo kein Zentralstaat mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Parteien, da kann natürlich auch kein Gemeinsamer Spitzenkandidat sein.
b) das Spitzenkandidatenprinzip ein Trick der beiden Großparteien sei, die kleineren Parteien zu schädigen, weil das Spitzenkandidaten dazu führt, dass mehr Leute EVP oder SPE wählen, und zwar wegen des SPitzenkandidaten, die ansonsten kleinere Parteien gewählt hätten.
c) das Spitzenkandidatenprinzip der EU - wenn man es als solches verstehen will - gewaltenteiliungswidrig ist, weil Exekutive und Legislative miteinander vermanscht werden. Die EU-Parlamentswahl sollte eine reine Legislativ- und Parlamentswahl sein, ohne Überlagerung durch eine Spitzenkandidatenfrage. Wenn man Spitzenkandidaten wählen will, wenn man EU-Kommissionspräsidenten wählen will, dann kann man das durch eine separate Wahl machen, wie z.B. die US-Präsidentschaftswahl, die österreichische Präsidentschaftswahl, die Direktwahl der Bürgermeister.
2.) Woltron bzw. Krone behauptet, die designierte EZB-Chefin Lagarde sei "rechtskräftig verurteilt". Aber dieses Urteil ist in vielerlei Hinsicht kurios. Sowohl Verteidiger als auch Staatsanwalt forderten im Verfahren, Lagarde soltle freigesprochen werden, aber der Richter entschied sich zu einer Verurteilung ohne Strafe, was eine sehr seltsame Sache ist, eine "judication imperfecta" in Anlehnung an die "lex imperfecta", das z.B. Dinge verbietet, aber bei Übertretung keine Strafe vorsieht.
Dabei ging es darum, dass Lagarde als Wirtschaftsministerin einen Rechtsstreit zwischen Bernard Tapie und der Credit Lyonnais beendet hatte, indem sie ein Schiedsgerichtsurteil akzeptierte, was zu einer Zahlung führte.
Bernard Tapie erlangte große Bekanntheit und Beliebtheit als Eigentümer des Fussballclubs "Olympique Marseille", und Fussball ist - insbesondere in Europa - eher ein Männersport, der oft auch zur Gewinnung männlicher Wähler genutzt, bzw. mißbraucht wird. Christine Lagarde ist nicht bekannt als Fussballfan, hingegen bei ihrem Präsidenten Nicolas Sarkozy konnte man vermuten, dass dieser die (männlichen) Fussballfans als Wähler gewinnen wollte und eben deswegen Druck auf Lagarde ausübte, Tapie entgegenzukommen. In diesem Sinne ist möglicherweise auch das Urteil zu verstehen: Lagarde wird verurteilt, weil etwas rechtlich nicht Korrektes passierte, aber die Straflosigkeit bedeutet, dass sie eben nicht schuldhaft handelte. Der Richter könnte mit der Verurteilung eigentlich Lagardes damaligen Präsidenten und Chef, Nicolas Sarkozy gemeint haben.
3.) Die mögliche Nominierung von Von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin hat auch den Hintergrund des Brexit: indem Von der Leyen als deutsche Verteidigungsministerin darauf beharrte, das Projekt des veralteten, für den Kalten Krieg konzipierten und tarnkappenlosen Eurofighter alternativlos fortzusetzen, entfremdete sie die Briten, die ein offensiveres Kampfflugzeug wollten, und sich deswegen am US-amerikanischen Joint Strike Fighter-Projekt (Lockheed-Martin F-35) beteiligten, was ein Vorbote des Brexit war. Dadurch, dass Von der Leyen die Briten durch Verweigerung eines offensiveren Programms den Brexit einleitete, verschaffte sie den Franzosen das wonach sie sich schon viele Jahrzehtnelang sehnen: das Vetomonopol; nach dem Brexit ist Frankreich das einzige EU-Land mit ständigem Sitz und Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat und kann damit jede EU-Aussenpolitik blockieren, die ihm mißfällt. Und die aus französischer Sicht störenden Briten, die mit ihrer Vetodrohung in der Vergangenheit egoistische Französische Vorschläge schnell vom Tisch fegten, können das nach dem Brexit natürlich nicht mehr. So gesehen auch logisch, dass der französische Präsident Macron Von der Leyen nominierte als Belohnung dafür, dass sie die Briten aus der EU rausgeekelt hatte.
4.) Dass EU-Parlamentspräsident Sassoli nicht Englisch spricht, wird erwähnt, aber nicht die Möglichen Hintergründe: mit Sassolis Englisch-Mangel wird ähnlich wie mit Von der Leyens Präsidentschaft eine Rückgängigmachung des Brexit, eine Brentrance, erschwert, bzw. verunmöglicht.
5.) Es gibt in Betrugssachen zahlreiche Judikate, dass der Betrogene mitschuld trägt am Betrug, durch Sorgfaltmangel, durch übergroße Gutgläubigkeit, durch mangelhafte Prüfung und durch mangelhaftes Misstrauen.
Das könnte man natürlich auch anwenden auf das Spitzenkandidatenprinzip bei der EU-Wahl.
So gesehen ist möglicherweise Woltrom mitschuld daran, dass er betrogen wurde, weil er zu wenig kritisch war.
Ähnlicherweise waren auch diejenigen Studenten, die allzu gutgläubig Gusenbauers Studiengebührenabschaffungsversprechen im Wahlkampf 2006 glaubten, obwohl schon vorher absehbar war, dass sich erstens keine rot-grüne Mehrheit ergeben würde, und dass zweitens wegen des Napalm-Wahlkampfs der SPÖ gegen die ÖVP die ÖVP nicht sehr kompromissbereit sein würde.
6.) Der frühere Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) erlangte vor vielen Jahren große Bekanntheit mit dem Zitat: "Wahlkampf ist die Zeit der fokussierten Unintelligenz". Auch daher hätte der intelligente Woltron skeptisch an den Wahlkampf herantreten sollen.
7.) Die Polemik, es gehe um Pfründe und Hintermänner, nicht um Inhalte, ist insofern sinnlos, als es eben Personen sind, die in einer repräsentativen Demokratie die INhalte personalisiert verkörpern.
8.) Der Lissabon-Vertrag sieht vor, dass der Europäische Rat, also die Regierungschef aller EU-Staaten, die Entscheidung treffen, wer EU-Kommissionspräsident wird.
D:K. / Krone
Schleichwerbung für Sebastian Kurz in der Krone: "Mit dem Kurz-Abo bestens informiert sein" ?
9.) Wenn das Spitzenkandidaten-Prinzip tatsächlich umgesetzt worden wäre und der Spitzenkandidat Timmermans EU-Kommissionspräsident geworden wäre, dann hätte das möglicherweise den Zerfall der EU bedeutet, weil Timmermans die osteuropäischen EU-Mitgleider scharf kritisert hatte.
10.) Die sogenannten Spitzenkandidaten haben eine hohe Neigung dazu, aus den sechs Gründungsmitgliedern der EU zu kommen und nicht aus den 22 sonstigen Mitgliedern: die Spitzenkandidaten 2014 und 2019 waren Juncker (Lux), Schulz (D), Weber (D), Timmermans (NL) und Keller (D). Das EU-Spitzenkandiatenprinzip hat so gesehen eine Optik eines Zweiklassensystems aus bevorzugten Gründungsmitgleidern und benachteiligen Ost- bzw. Neumitgliedern.
11.) es mag schon sein, dass Woltron betrogen wurde, aber auf eine Art und Weise, die er möglicherweise selbst noch nicht begreift: dass es eigentlich um den Brexit ging, und um sonst gar nichts.