Diesen Jänner ist der Film "Die dunkelste Stunde" in Österreichs Kinos angelaufen, der sich hauptsächlich mit dem ersten Monat als Premierminister von Winston Churchill im Mai 1940 beschäftigt, also der Zeit zwischen dem Norwegenkrieg und der Evakuierung der britischen Truppen von Dünkirchen.
Nachdem ohnehin schon die Filmwerbewirtschaft, der Regisseur und der Hauptdarsteller (Gary Oldman) in Interviews genügend pro-Argumente für diesen Film gebracht haben, so möchte ich als Gegengewicht das vorbringen, was gegen den Film spricht, bzw. sprechen könnte:
das ist erstens einmal die weitgehende Reduktion auf den Zeitraum des Mai 1940.
Die einzige Ausnahme von der Nichterwähnung der Vorgeschichte ist die Schlacht bei Gallipoli / Canakkale von 1915, als die Briten gegen türkische Truppen eine schwere Niederlage erlitten. In der Literatur wird dafür oft wesentlich Churchill verantwortlich gemacht, aber seine Position (zumindest im Film) ist die, andere Generäle hätten den Überraschungsvorteil verspielt, weshalb die Operation scheitern musste.
Ein wesentlicher Aspekt in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und seiner Entstehungsgeschichte sind die Vororteverträge des Jahres 1919 (Versailles, Saint Germain, Trianon, etc.), die durch ihre harten Reparationsforderungen für den ersten Weltkrieg und die Grenzverschiebungen sehr wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg der Nazis in Deutschland beitrugen (was den verbrecherischen Charakter des Nazi-Regimes keinesfalls relativieren soll).
Während der britische Wirtschaftswissenschafter, Finanzministeriumsmitarbeiter und Delegationsmitglied John Maynard Keynes den Versailles-Vertrag und Ähnliche scharf kritisierte (z.B. in seinem Buch "Krieg und Frieden - Wirtschaftliche Folgen des Versailles-Vertrags" ), hat Churchill vor 1948 kein einziges Mal Kritik am Versailles-Vertrag geübt. Anders gesagt: er war gezwungen, den "Tiger" zu bekämpfen, den er durch sein Schweigen 1919 möglicherweise selbst mitgeschaffen hatte. Ein wichtiger Aspekt, den der (durch die angelsächsische Brille verzerrte?) Film verschweigt. Die führende Persönlichkeit auf britischer Seite bei den Vororte-Vertragsverhandlungen 1919 war der damalige Premierminister David Lloyd George; Churchill spielte auch wegen der Gallipoli-Niederlage damals keine Rolle in der betreffenden Politik (Premier, Finanzminister). Als alliierte Propaganda kann man auch diejenigen französischen, britischen und US-amerikanischen Historiker betrachten, die von einem "zweiten dreissigjährigen Krieg 1914-1945" sprechen und verschweigen, dass die Vororte-Verträge eine Weichenstellung waren, die den Zweiten Weltkrieg hätte verhindern können.
Auch der angebliche Konflikt zwischen Friedenspartei (gleichsam verkörpert durch Chamberlain) und Kriegspartei (verkörpert durch Churchill), wie in diesem Film und in Teilen der Geschichtswissenschaft behauptet, erscheint mir übertrieben bzw. eher taktisch als intrinsisch.
Viel eher würde ich die These von der "kalkulierten Ambiguität" vertreten; demnach wäre Chamberlain keine reine Friedentaube: er schien sich vor Vertragsabschluss durchaus bewußt zu sein, dass Hitler das Münchner Abkommen von September 1938 bzw. die darin enthaltenen Sicherheitsgarantien für die Rest-Tschechoslowakei brechen könnte; das Münchner Abkommen hatte für Chamberlain auch zum Teil einen Entzauberungseffekt: vor dem Münchner Abkommen hatte Hitler ausschliesslich Verträge gebrochen, die er erstens nicht selbst abgeschlossen hatte und zweitens die oft tatsächlich hart und wahrscheinlich uneinhaltbar waren und die drittens oft gegen das Selbstbestimmungsprinzip verstiessen, das der US-Präsident Wilson 1919 betont hatte.
Umgekehrt war Churchill auch nicht der eindeutige Bellizist: er beliess Chamberlain und Halifax in seiner Regierung; dadurch konnte seine erste Regierung situationselastisch auf Entwicklungen reagieren.
Und diese Entwicklungen waren zum Beispiel die Niederlagen westeuropäischer Staaten (Belgien, Niederlande, Frankreich), die auch die in Frankreich stationierten britischen Truppen in Gefahr brachten.
Indem die britische Regierung nach der Niederlage Frankreichs eine - wahrscheinlich nicht ernst gemeinte - Friedensoption andeutete, bewegte sie Nazideutschland zur Zurückhaltung in Sachen Dünkirchen. Wenn Churchill bzw. seine Regierung die Entschlossenheit, Krieg zu führen, bereits kurz vor Dünkirchen klar geäußert hätte, dann hätten die 300.000 britischen Soldaten wahrscheinlich nicht aus Dünkirchen evakuiert werden können. Anders gesagt: um die britischen Truppen vom Kontinent evakuieren zu können, betrieb Churchill genau die Friedenrhetorik und Appeasement-Politik Hitler gegenüber, die Chamberlain zum Vorwurf gemacht wird.
Man kann das als Lüge betrachten, und diese Unehrlichkeit, die Entschlossenheit zur Kriegsführung zu vertuschen, um die eigenen Truppen in Frankreich vor dem sinnlosen Untergang zu beschützen, kann auch vor dem Hintergrund der sogenannten "Massenvernichtungswaffenlüge" von Bush und Blair und der Koalition der Willigen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg 2003 betrachtet werden (damals gab es zwar keine aktuellen Massenvernichtungswaffen, aber es ist plausibel, anzunehmen, dass Saddam Hussein nach einer etwaigen 2002 diskutierten Aufhebung der Irak-Sanktionen ein Atomwaffenprogramm oder ein ähnliches Programm gestartet hätte).
Später als 1940 stattfindende Ereignisse werden in diesem Film kaum thematisiert: zum Beispiel die Entscheidung von Churchill ganz am Kriegsende, als Nazideutschland bereits technisch k.o. war, Flächenbombardements gegen mit Flüchtlingen überfüllte Städte ohne Luftverteidigung (wie z.B. Dresden) zu befehlen. Aussagen von Harris (dem militärischen Oberbefehlshaber des Bomber-Commands) weisen darauf hin, dass Churchill der Direkt Verantwortliche gewesen sein dürfte. Was sich Churchill dabei gedacht hat, ist nach wie vor umstritten: von einem Entgegenkommen gegenüber Stalin, der eine Erschütterung der Ostfront wollte, bis darüber, dass es der Preis dafür war, Frankreich als vierte Siegermacht mit an den Tisch zu bringen, gehen die Theorien. Möglicherweise beabsichtigte Churchill durch diese Bombardements auch, dass Großbritannien von Roosevelt und Stalin als dritte gleichberechtigte Supermacht betrachtet werde.
Die Grausamkeit, die Churchill ganz am Ende des Krieges zeigte und die von britischen Medien und Geistlichen kritisiert worden war, war möglicherweise einer der Gründe für die Abwahl Churchills bzw. der konservativen Partei kurz nach Ende des Weltkriegs. Diese Abwahl wird am Ende des Films als Nachgeschichte erwähnt, IIRC. Manche Historiker und Experten stufen diese militärisch ziemlichen sinnlosen Bombardements zu einem Zeitpunkt, als Nazideutschland praktisch besiegt war, als Kriegsverbrechen ein.
In der Populärkultur und in großen Teilen der Geschichtswissenschaft hat sich stark eine Art Bild vom "pazifistischen Idioten" Chamberlain und vom "konsequenten und zukunft-vorhersehenden" Churchill durchgesetzt.
Aber dieses Bild ist fraglich: und zwar auch deswegen, weil Churchill gegenüber Stalin ganz ähnliche Appeasement-Politik mit ganz ähnlichen Entzauberungsverträgen betrieben hat, wie Chamberlain das mit dem Münchner Abkommen Hitler gegenüber gemacht hatte.
Churchill hatte mit Stalin Verträge bzw. Vereinbarungen abgeschlossen, die z.B. Machtteilung in verschiedenen osteuropäischen Staaten vorgesehen hatten, z.B. 50% sowjetisch-russisch, 20% britisch, Durchführung freier Wahlen in osteuropäischen Staaten. Stalin bzw. Sowjetunion hat diese Verträge bzw. Vereinbarungen gebrochen.
Genauso wie man vermuten kann, dass Churchill nicht wirklich daran glaubte, dass Stalin diese Verträge einhalten würde, genauso kann man vermuten, dass Chamberlain nicht wirklich glaubte, dass Hitler das Münchner Abkommen einhalten würde.
Entzauberungsverträge dienen dazu, das Gegenüber als Vertragsbrecher zu brandmarken, aber der Preis dafür und das ganz normale Politiker-Berufsrisiko ist, dass man selbst am Ende als angeblicher Dummkopf dastehen könnte, der einem Verbrecher vertraute.
Chamberlain ist dies tatsächlich passiert, auch deswegen, weil er 1940 an Krebs starb, und nicht mehr Selbstverteidigungs-PR betreiben konnte, so wie Churchill z.B. mit seinem Buch. Das Buch "München" von Robert Harris kann als eine Art Rehabilitierung von Chamberlain betrachtet werden.
Doch zurück zum Film: "Die dunkelste Stunde" ist mit "Ab 8 Jahren" eingestuft, und in mancher Hinsicht richtet er sich tatsächlich an Kinder oder Jugendliche, die heutzutage den Hauptteil der Kinobesucher ausmachen.
Auch Churchill-Zitate wie "Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler" kommen in diesem Film nicht vor. Allerdings sagte Churchill auch "Demokratie ist die schlechteste Regierungsform - außer all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind."
Die Einstufung "Ab 8" ist für einen Zweiten-Weltkriegs-Film isoliert betrachtet erstaunlich, aber es handelt sich um einen Film, der keine Actionszenen beinhält, sondern den sehr wesentlich durch Gespräche getragen ist. Es fallen zwar Bomben im Film, aber es fliesst kein Blut.
Der US-Regisseur Alfred Hitchcock antwortete einmal, auf Mängel eines seiner Filme angesprochen: "Who cares ? It´s just a movie ..." ("Wen kümmert´s ? Es ist ja nur ein Film ...." )
Man kann das so sehen, aber Filme haben doch eine starke Wirkung auf Gesellschaften und Denken. Und weil ihre Wirkung oft so groß ist, sollte man doch höhere Ansprüche an sie stellen.
Der Film die dunkelste Stunde wurde von Universal Pictures finanziert, einer US-Filmproduktionsgesellschaft, die eine Tochtergesellschaft von NBC-Universal ist, einem Konglomerat mit Schwerpunkt Medien, in dem auch das frühere NBC (National Broadcasting Corporation) aufging.
Dass der Film "Die dunkelste Stunde" das Prädikat "wertvoll" erhielt, ist mir nicht ganz erklärlich.
USA und Großbritannien sind kulturell einander sehr nahestehend, auch wegen der gemeinsamen Sprache und der gemeinsamen Geschichte: die USA begannen als britische Kolonie.
Generell stellt sich die Frage des Kontexts: gerade in Brexit-Zeiten (und das Brexit-Votum war auch eine Reaktion auf Merkels "Willkommenspolitik" ) könnte die Thematisierung eines deutsch-dominierten Kontinentaleuropa 1940 Gefahr laufen, Gräben zwischen Großbritannien und EU zu vertiefen (die ungünstige Übergangsregelgung für den Brexit könnte dazu bedauerlicherweise beitragen).
P.S.: ein österreichischer Aspekt sei mir noch gestattet: unter den Großmächten und der Großmächte-Geschichtsschreibung dominieren natürlich die Großmächte und Kleinstaaten kommen oft nur als Subjekte vor, falls überhaupt. Chamberlain sagte einmal, die Tschechoslowakei sei entferntes Land, von dem "wir" (er meinte die Briten, nicht sich selbst!) nichts wissen.
Der frühere österreichische Bundeskanzler Karl Renner (SPÖ), der eigentlich ein Großkoalitionär gewesen war, hatte sich im März 1938 für den "Anschluss" ausgesprochen, in seiner Begründung aber weder "Hitler" noch den "Nationalsozialismus" erwähnt. Er begründete dieses sein Verhalten mit der Kritik am Versailles- und am Saint-Germain-Vertrag, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, und damit, dass er seine Linie aus den vorangegangenen Jahrzehnten damit fortsetze. Bei Renner dürfte vielleicht eine Rolle gespielt haben, dass Deutschland das industrialisiertere Land war, mit dem größeren Arbeiterschaftsanteil, sodass auch soialdemokratische Regierungen und Präsidenten möglich seien, wie z.B. Ebert (während in Österreich die Sozialdemokratie in der ersten Republik immer in Opposition war). Renner stammte ausserdem aus dem Sudetenland, um das sich das Münchner Abkommen drehte. Und er hatte auch einmal gesagt: "Die Hitlers kommen und gehen - Deutschland bleibt".
Es mag sein, dass Chamberlain, dessen Tory-Partei bzgl. Österreich am ehesten mit den Christlich-Sozialen sympathisiert haben dürfte, beim Münchner Abkommen auch den Hintergedanken hatte, eine sich abzeichnende Allianz zwischen SP und NS zu verhindern und die CS aus der Isolation herauszubringen.
P.S.2: eines der gewichtigsten Argumente gegen Chamberlains Appeasement-Politik könnte sein, dass dadurch ein Putsch, z.B. der Wehrmachts-Generäle Halder und Beck gegen Hitler bzw. die Nazis, verhindert worden sein dürfte. Dies dürfte Chamberlain aber nicht bewußt gewesen sein, während Churchill als Militär vielleicht die bessere Witterung dafür gehabt haben könnte.
Ein Pro-Appeasement-Politik-Argument wäre, dass Großbritannien dadurch ein bis zwei Jahre Zeit gewann, um seine Air Force zu modernisieren und Radarstationsketten (die auch für die Luftschlacht um England bedeutend waren) an der Küste auszubauen.
Gerade der vorangegangene Air Force-Ausbau wäre ein Argument dafür, dass die im Film beschriebene Befürchtung einer Marine-Invasion durch Nazideutschland über den Ärmelkanal übertrieben war.
Ein weiteres Argument gegen die Appeasement-Politik wäre, dass es ab 1933 wahrscheinlich schon zu spät war, um zu beschwichtigen; mit anderen Worten: wenn diese Beschwichtigungspolitik schon in den 1920er Jahren betrieben worden wäre (und nicht in den 1930ern), dann wären die Nazis vermutlich gar nicht an die Macht gekommen.
Gary Oldman wurde für seine Verkörperung Churchill vielfach gelobt.
Gleichzeitig mit dem Film war auch eine Signierstunde bzgl. dieser Glattauer-Verfilmung:
Copyright der Fotos manchmal fraglich: Knoflach oder Universal.