"Vor Gericht hat jeder als unschuldig zu gelten, bis seine Schuld bewiesen ist", "Niemand darf von einem Gericht verurteilt werden, bis seine Schuld bewiesen ist", lauten die Grundsätze des Rechtsstaates.

Auf diese berufen sich nun Kanzler Sebastian Kurz und viele der Politiker und -innen in seinem Gefolge.

Allerdings gibt es viele Berufe und Positionen, für die die Unschuldsvermutung nicht reicht, sondern für die man einen tadellosen Ruf braucht.

So müssen oder sollten zum Beispiel Richter bereits über den Verdacht der Parteilichkeit erhaben sein, und bereits der Verdacht einer Parteilichkeit ist in der Richterschaft ein Grund, sich in einem konkreten Fall für befangen zu erklären, und einen konkreten Fall nicht zu übernehmen.

Auch in der Privatwirtschaft reicht die Unschuldsvermutung nicht. Um Vorsitzender des Vorstands einer großen, transparenten und börsennotierten Aktiengesellschaft zu werden, reicht die Unschuldsvermutung nicht. Jemand, der im Korruptionsverdacht steht, hat sehr schlechte Chancen, eine Führungsposition in der Wirtschaft zu bekommen.

Und eine unschuldige Privatperson, die in Korruptionsverdacht gerät, muss mit gravierenden Konsequenzen rechnen, bei Banken, Geschäftspartnern, Ermittlungsbehörden und sonstwo.

Und auch eine unschuldige Privatperson muss oft ein langes Fegefeuer (allerdings im wirklichen Leben und nicht in der Hölle), eine lange Zeit der Bewährung durchlaufen, um sich vom Verdacht reinzuwaschen.

Während dieser Zeit ist mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen, mit Problemen, mit Schäden, mit Einkommenseinbussen.

Aber in der Politik gelten scheinbar andere Maßstäbe als in der Privatwirtschaft. In der Politik kann man immer den Märtyrer spielen, das Opfer spielen, auch wenn der Verdacht dichter ist, als bei vielen Privatpersonen, die schon bei viel geringerem Verdacht ernsthafte Schäden erleiden.

Damit stellt sich auch die Frage der Repräsentativität: wenn jemand in einer Politiker-Parallel-Welt lebt, in der völlig andere Regeln gelten als in der wirklichen Welt der wirklichen, normalen Menschen, wie kann diese Person dann Politik für die Menschen betreiben ?

Und letztlich hat es auch was von einem Mangel an Bescheidenheit, sich bis zum letzten Moment an ein Amt zu klammern. Jeder und Jede ist ersetzbar. Und niemand ist ein unverzichtbarer Gott.

Andererseits hat natürlich auch das Argument "Wir lassen uns niemanden herausschiessen!" eine gewisse Bedeutung. Eine Partei, die sich von anderen Parteien vorschreiben läßt, welche Personen Spitzenpositionen bekleiden dürfen, läuft leicht Gefahr, unterzugehen.

Und drittens zählt die Frage der Belastung für den Staat. Wenn Sachpolitik gar nicht mehr betrieben werden kann, weil die Personaldebatte alles dominiert, dann ist das nicht gut für einen Staat und seine Bürger.

Daher kann es in gewissen Situationen in gewissen Positionen angezeigt sein, zurückzutreten, weil eine andere Person mit weniger oder keinen Verdachtsmomenten besser zur Führung eines Staates geeignet ist.

Oft ist es besser, schnell und mit einer gewissen Würde zurückzutreten, als sich ewig an die Macht zu klammern und sie dann erst recht unwürdig zu verlieren.

Und die scheinbare Solidarisierung zahlreicher ÖVP-Politiker mit Kurz, die aber in den Nuancen schwächer und kritischer ist als zuvor, ist vielleicht ein letzte Chance, Kurz diesen würdevollen Abgang zu ermöglichen.

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Ttavoc

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