Die Debatte bzw. die Aufregung um das österreichische Bundesheer nimmt immer absurdere Züge an: nach einem Zickzackkurs der relativ neuen Verteidigungsministerin um eine etwaige "Totalreform" des Bundesheeres, die später zurückgezogen wurde, um Kasernenschliessung, die vielleicht kommen, vielleicht auch nicht, um mehr oder weniger selbstzweck- und reflexhafte "Kritik" der Opposition (SPÖ, FPÖ, NEOS) gab es ein mediales Hin-Und-Her, bei der es um alles Mögliche und Unmögliche ging, wie z.B. die Debattenfähigkeit der Verteidigungsministerin Tanner, nur nicht um die Essenz des österreichischen Bundesheeres.

Generell stellt sich die Frage, ob Österreich in dieser geopolitischen Situation und unter diesen, auch verfassungs- und neutralitätsrechtlichen Bedingungen überhaupt noch ein Bundesheer braucht - aber von den Politikern und -innen traut sich offensichtlich niemand, diese Frage zu stellen, vielleicht aus Furcht, dann den Vorwurf zu bekommen, die Verfassung brechen zu wollen, in der Landesverteidigung und Bundesheer verankert ist.

Zu den Kuriositäten des österreichischen Bundesheeres gehört die mehr oder weniger verzweifelte Suche nach einem neuen Feind: soll das Bundesheer seine Zukunft in der Corona-Viren-Bekämpfung suchen, in der Computervirenbekämpfung und der Cybersicherheit, im Katastrophenschutz, im Sport und Sportsoldatentum, im Anti-Migranteneinsatz, in der Assistenz für verschiedenste Ministerien, zum Beispiel das Innenministerium ?

Ehrlich gesagt: alleine schon die Art und Weise, wie hier vorgegangen wird, erscheint mir verkehrt: es steht ein Bundesheer in der Verfassung, also müssen wir irgendeinen Alibi-Sinn finden, der die - gemessen am Sinn - hohen Verteidigungsausgaben rechtfertigt.

Eine der Problematiken der hoffnungslos veralteten Verfassung in Hinsicht auf die Landesverteidigung in Kombination mit dem Neutralitätsgesetz ist auch, dass sie maßgeschneidert ist für die Bedrohungssituation der Ära 1955-1990, also für den Ost-West-Konflikt, für den Konflikt zwischen Westblock NATO und Ostblock Warschauer Pakt.

Seither hat offensichtlich niemand in der politisch-medialen Klasse erwähnt, dass die Lage sich total verändert hat, was wenigstens den Spruch bestätigt, dass alles in Österreich 40 oder 50 Jahre später passiert bzw. zur Kenntnis genommen wird als im Rest der Welt, auch der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, des Militärbündnisses des kommunistischen Ostblocks.

Während unsere osteuropäischen Nachbarn (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) ihre Militärpolitik radikal änderten von WarschauerPakt-Mitgliedschaft zu NATO-Mitgliedschaft, tat Österreich in Anbetracht der total geänderten Lage .... gar nichts.

Was auffällt, ist die offensichtliche Unfähigkeit der politisch-medialen Klasse hierzulande, anders zu denken als völlig defensiv, so als wäre Österreich die "Insel der Seligen", als die Papst Pius Österreich einmal bezeichnete, und selig sind laut Bibel bekanntlich die Armen im Geiste.

Konzepte wie Offensivverteidigung oder wie Militäraussenpolitik kommen in den Überlegungen österreichischer "Militärpolitik"-Experten nicht vor. Die völlige Unfähigkeit aller Parteien, in Konzepten von Offensivverteidigung und Militäraussenpolitik zu denken, kann man auch als Verstoss gegen die Verfassung betrachten, nämlich gegen die geistige Landesverteidigung.

Scheinbar ist das Bundesheer für die politische Linke in Österreich ein reines Arbeitsplatzbeschaffungsinstrument, hingegen für die Rechte (die bürgerliche Rechte) ein reines Waffengeschäftabwicklungsinstrument für ÖVP-nahe oder NEOS-nahe Betriebe. Es ist - abstrakt gesehen - extrem verwunderlich, wie wenig die Reden von Politikern und -innen, von Heeressprechern mit militärischen Fragen zu tun haben. Und da das österreichische Bundesheer ein reines Arbeitsplatzbeschaffungsinstrument ist ohne militärischen Sinn, ist die ÖAAB-Mitgliedschaft (Österreichischer Arbeitnehmer- und Angestelltenbund) der Verteidigungsministerin wie vieler ihrer Vorgänger offensichtlich auch die ideale und einzigmögliche Qualifikation.

Gerade die modernen "Kriege der Kulturen" laufen - auch wenn unsere von keinerlei Militärexpertise beleckten Heeressprecher der Parteien es nicht wissen - ganz anders ab als gewohnt und als in der Verfassung vorgesehen: da gibt es keine formellen Kriegserklärungen, keine regulären Armeen, etc. Auch der Abzug der österreichischen UNO-Truppen vom Golan vor ca. 10 Jahren unter der Regierung Faymann-Spindelegger passt zu einer Abwendung von der Welt und zu einer Beschränkung des Denkens auf die Verteidigung des Landes im engeren Sinn, für die es nur keine realistischen Bedrohungsszenarien gibt.

https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/14056447/Verteidigungsministerin-Tanner-OeVP-ueber-Heeresreformplaene/14720108

CC /Pixabay License / Natire-Pix https://pixabay.com/images/download/tree-giant-3582717_1280.jpg?attachment

Wo verdammt noch einmal ist der Feind, der ein Bundesheer und seine Ausgaben rechtfertigen könnte und noch dazu zu Verfassung und Neutralitätsgesetz passt ? Österreichs Politik auf der verzweifelten Suche nach einer Aufgabe für das Bundesheer ....

Irgendwie hat das was von Schildbürgerpolitik - und der wirkliche Ansatz müsste umgekehrt laufen: erst einmal braucht man realistische und umfassende Bedrohungs- oder Aufgabenszenarien, und dann Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die diesen Szenarien entsprechen.

"Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen meiner Welt" - sagte der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein einmal - und weil die Bezeichnung so extrem defensiv ist - "Verteidigungsministerium" - kommt niemand auf die Idee, etwas anderes zu denken als extrem Defensives.

Andere Staaten haben Kriegsministerien, Heeresministerien, Marineministerien - und die kommen viel eher auf die Idee der Militäraussenpolitik und der Offensivverteidigung, auch in Zusammenhang mit den "Zusammenprall der Kulturen", bei denen nicht so eindeutig ist, wer Angreifer ist und wer Verteidiger. Gerade bei mir als Dschihad-Opfer wäre eine Offensivverteidigung, also eine mehr oder weniger kriegerische Handlung außerhalb des eigenen Staatsgebiets, ja de facto eine Verteidigung.

Auch der Spruch, man müsse die Fluchtursachen dort bekämpfen, wo sie bestehen, nämlich an der Quelle, ist ganz schnell vergessen, wenn es ums Militärische geht. Der Militärtheoretiker Clausewitz vertrat auch eine weit über die Verteidigung im engeren Sinne hinausgehende Vorstellung des Krieges: als Fortsetzung der Politik und der Diplomatie mit anderen Mitteln. In diesem Sinne sind auch Kriege zur Umsetzung der UNO-Nachhaltigkeitsziele oder Ähnlicher oder zur Durchsetzung der Menschenrechte (nach der New Yorker Deklaration von 1948) durchaus eine Option.

Ein Bundesheer nur deswegen zu haben, weil es in der Verfassung steht und damit die hohen Kosten schön richtig wehtun, die Verfassung nicht zu ändern, hat schon etwas von Masochismus - aber der Namensgeber des Masochismus, Leopold von Sacher-Masoch, war ja bekanntlich Österreicher und in vielerlei Hinsicht typisch für das Denken des Landes bzw. seiner Politiker.

Niemand würde sich eine 300-Quadratmeter-Wohnung leisten, die er nicht braucht und die das Fünffache dessen kostet, was er finanzieren kann, nur deswegen, weil´s in der Verfassung oder in den Gesetzen so steht, dass er das muß. Und laut zahlreichen Recherchen wären junge österreichische Männer auch nicht bereit gewesen, ihr Leben zu opfern, nur damit NATO-Truppentransfers über den Brenner-Pass zwischen Deutschland und Italien nicht stattfinden können, so wie Neutralität und Landesverteidigung das eigentlich bedeuten würden.

Manche Gesetze und Verfassungsbestimmungen sind dermaßen blöd, dass es das Beste ist, sie zu brechen - oder sie zu ändern. Der Spruch des Bundespräsidenten Van der Bellen "Manche Wahlversprechen sind dermaßen blöd, dass es das Beste ist, sie zu brechen", gilt in abgewandelter Form auch hier.

https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_von_Sacher-Masoch#/media/Datei:Leopold_von_Sacher-Masoch,_portrait.jpg

Wie Landsmann Leopold von Sacher-Masoch geniessen es die Österreicher in offensichtlich masochistischer Obsession, unter einer Verfassung zu leiden, die sie dazu angeblich dazu "verpflichtet", ein unter den Rahmenbedingungen der Neutralität und der NATO-"Umzingelung" und der Innenfixierung des militärischen Denkens ebenso sinnloses wie teures Bundesheer zu haben.

Ähnliche Seltsamkeiten sind sonst nur von den Schildbürgern bekannt.

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

14 Kommentare

Mehr von Dieter Knoflach