Die verbleibenden 10 Tage vor der Wahl dürften natürlich nicht reichen, um die Frage in ausreichender Tiefe zu diskutieren oder über den Verfassungsgerichtshof zu klären, aber es könnte durchaus sein, dass die grüne Vizebürgermeisterin Hebein und der ÖVP-Bezirksvorsteher des ersten Bezirks, Figl, das Recht haben, eine City-Maut-Vereinbarung zu treffen, hingegen der angebliche Bürgermeister Ludwig (SPÖ), bzw. die Magistratsjuristen unrecht darin, dass ein Bürgermeisterrecht bestünde, die City-Maut zu verhindern.

Ein Ausgangspunkt dafür wäre eine Verfassungsgerichtshofs- (VfGH-)Entscheidung aus dem Jahr 1977/1978 in Bezug auf die Burgenländische Landtagswahlordnung, nämlich dass Pluralformulierungen "mindestens zwei" bedeuten. Konkret ging es damals um die Formulierung im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), die Wähler bei Landtagswahlen üben ihr Wahlrecht in Wahlkreisen aus, also Plural.

Dieselbe VfGH-Logik kann man natürlich auch auf eine andere Formulierung der Bundes-Verfassung anwenden: jedes Land gliedert sich Gemeinden, also auch Plural, was nach der VfGH-Logik bedeuten würde, jedes Land müsse sich in mindestens zwei Gemeinden gliedern.

Derzeit wird die Meinung vertreten, Wien sei Bundesland und Gemeinde zugleich. Aber es gibt in den Sonderbestimmungen im B-VG zu Wien (Artikel 108 bis 112) keine Ausnahme von der Regel, dass sich jedes Bundesland in Gemeinden, also Plural, also mindestens zwei laut VfGH-Logik, gliedern müsse.

Das heisst wohl, dass auch Wien sich in mehrere Gemeinden gliedern müsse. Nun gibt es aber in Wien und auf niedrigerer Ebene keine andere Gliederung als die Bezirke, was wohl bedeutet, dass die Wiener Bezirke in Wirklichkeit Gemeinden sind, mit allen Rechten und Pflichten. Und der Wiener Bürgermeister gar kein Bürgermeister ist, sondern nur ein reiner Landeshauptmann oder aber ein Oberbürgermeister.

Egal nun, ob Wien einen reinen Landeshauptmann ohne Bürgermeisterfunktion oder einen koordierenden Oberbürgermeister hat, der die Tätigkeit der Bürgermeister der Bezirke/Gemeinden koordiniert und eine Sprecherfunktion nach Aussen hat, in beiden Fällen hat er wohl weniger Möglichkeiten, als ihm jetzt aufgrund der möglicherweise bundesverfassungswidrigen Wiener Stadtverfassung und aufgrund der bisherigen Rechtsmeinung zustünde. Und im Umkehrschluss hätten die jetzigen Bezirksvorsteher bzw. Bezirksparlamente natürlich wesentlich mehr Kompetenzen und Möglichkeiten, als bisher geglaubt.

Das hat natürlich auch Rückwirkungen auf verschiedene Entscheidungen und Streitigkeiten, die es in letzter Zeit gab, wie z.B. die City-Maut-Frage oder die Frage des Hietzinger Budgets: beide Bezirke (Innere Stadt, Hietzing) haben ÖVP-Bezirksvorsteher bzw. -innen (Figl und Kobald), und beide würden durch diese neue Verfassungsinterpretation gestärkt, hingegen Ludwig geschwächt.

Und es hätte auch Auswirkungen auf die Frage der Legitimität der Wahl: man kann annehmen, dass Wahlkämpfe und Wahlen anders gelaufen wären, wenn es um die Wahlen der 23 Wiener Gemeinden (im Plural) gegangen wäre und nicht um die eine Gemeinderatswahl.

Der Zwitterstatus von Wien als "sowohl Stadt wie auch Gemeinde" ergibt auch zahlreiche Probleme in Bezug z.B. auf das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger: gilt es nun in Wien, wenn es auf Gemeindeebene gilt, auf Landesebene nicht gilt und Wien sowohl Land als auch Gemeinde ist ? Und wie irreführend sind alle die Umfragen, wie "Sind Sie für kommunales Ausländer-Wahlrecht in Wien ?", wenn nicht einmal klar ist, was überhaupt Kommune ist, ob Wien aus einer Kommune besteht oder aus 23 Kommunen ? Soll das nun heissen "Sind Sie für kommunales Ausländer-Wahlrecht im Bundesland Wien?" oder was ? Braucht Wien, um dem Zwitterstatus gerecht zu werden, zwei Vertretungskörper, einen Landtag, in dem kein kommunales Wahlrecht für EU-Bürger gilt und einen Gemeinderat, in dem kommunales Wahlrecht gilt, und nicht den Landtags-Gemeinderats-Zwitter, den Wien derzeit hat, von dem völlig unklar ist, ob kommunales Wahlrecht gelten solle oder nicht ? Und wie handhabt man KOnflikte zwischen einem Landtag und einem Gemeinderat, die zu demselben Thema unterschiedlich abstimmen, weil unterschiedliche Wählergruppen zu ihnen wahlberechtigt sind?

Fragen der Machtkonzentration sind natürlich auch Demokratiefragen: Demokratie ist die Machtverteilung auf möglichst viele verschiedene Köpfe, hingegen Diktatur oder Autokratie ist die Machtkonzentration auf Einen Einzigen. Und mit der Machtfülle, gleichzeitig Landeshauptmann und Bürgermeister zu sein, bei gleichzeitigen praktisch ohnmächtigen Bezirken hat der Wiener Landeshauptmann-Bürgermeister eine quasi-diktatorische Machtfülle aufgrund der jetzigen Lesart. Interessanterweise skandalisiert die SPÖ gleichzeitig Ungarn oder Russland als "autoritär", vielleicht um davon abzulenken, dass die Machtkonzentration in Wien ähnlich demokratiepolitisch problematisch ist.

CC / Bwag https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Michael_Ludwig_-_Veranstaltung_%E2%80%9E1._Tag_des_Wiener_Wohnbaus%E2%80%9C_(1).JPG

Der angebliche Wiener Bürgermeister Michael Ludwig: Täter zahlreicher Verfassungsbrüche, weil er und die Magistratsjuristen die Verfassung falsch interpretierten ?

Artikel 116 B-VG: "Artikel 116. (1) Jedes Land gliedert sich in Gemeinden. Die Gemeinde ist Gebietskörperschaft mit dem Recht auf Selbstverwaltung und zugleich Verwaltungssprengel. Jedes Grundstück muss zu einer Gemeinde gehören."

Artikel 95 (3) B-VG (Länder-Kapitel):

"(3) Die Wähler üben ihr Wahlrecht in Wahlkreisen aus, von denen jeder ein geschlossenes Gebiet umfassen muss und die in räumlich geschlossene Regionalwahlkreise unterteilt werden können. Die Zahl der Abgeordneten ist auf die Wahlkreise im Verhältnis der Bürgerzahl zu verteilen. Die Landtagswahlordnung kann ein abschließendes Ermittlungsverfahren im gesamten Landesgebiet vorsehen, durch das sowohl ein Ausgleich der den wahlwerbenden Parteien in den Wahlkreisen zugeteilten als auch eine Aufteilung der noch nicht zugeteilten Mandate nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgt. Eine Gliederung der Wählerschaft in andere Wahlkörper ist nicht zulässig."

Hier das Verfassungsgerichtshofurteil 8321 aus dem Jahr 1978, dass Mehrzahlformulierungen in der Verfassung (also im B-VG) bedeuten, dass es mindestens zwei sein müssen:

http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=vfb&datum=0043&size=45&page=382

(Alex ist ein online-Lexikon historischer Rechtstexte und es umfasst alle VfGH-Entscheidungen vor 1980; diese sind im RIS, im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts, nicht enthalten, und das ist vielleicht der Grund, warum diese Entscheidung aus dem Jahr 1978 keine Beachtung fand)

Die österreichischen Possibly-FakeNews-Medien sehen das alles völlig anders und verschweigen das verfassungsrechtlich dünne Eis, auf dem Ludwig wandelt, und mit dieser Falschinformation handeln sie sich möglicherweise auch den Vorwurf der Wahlmanipulation ein ....

Pixabay License / Tim Hill https://pixabay.com/photos/whitby-abbey-dracula-bram-stoker-2805489/

Verfassungsruine ? Kritiker vertreten - im Gegensatz zu Bundespräsident Van der Bellen, der immer von der angeblichen "Schönheit der Verfassung" schwelgt - die Auffassung, die österreichische Verfassung und die damit zusammenhängende Verfassungsjudikatur seien eine Ruine, geprägt von Zersplitterung, Verfall, Unauffindbarkeit, Widersprüchlichkeit, Unverstehbarkeit, und der Wiener Zwitterstatus, sowohl Land als auch Gemeinde zu sein, wodurch sich zahlreiche Probleme ergeben, ist ein Teil dieses ruinösen Zustands.

Ähnliche Doppeldeutigkeiten in der Verfassung gibt es rund um die Frage, wie die Stellung des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung sei.

z.B. Artikel 70 B-VG: "Artikel 70. (1) Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt."

Was heisst das nun ? Besteht eine Pflicht des Bundespräsidenten, den Kanzler zu ernennen, auf den sich die Mehrheitsfraktionen im Parlament geeinigt haben ? Oder ist der Bundespräsident frei, fast jeden zu ernennen, fast wie bei Kaiser Caligula, der sein Pferd zum Regierungschef ernannte ? Weder wird hier von "Ernennungspflicht der Bundespräsidenten" gesprochen, noch von "Auswahlrecht des Bundespräsidenten": weder wird die Formulierung verwendet "Der Bundespräsident ist verpflichtet, denjenigen oder diejenige zum Kanzler zu ernennen, auf den die Mehrheit des Parlamentes sich geeinigt hat" noch die Formulierung "Der Bundespräsident ist frei, eine Person seiner Wahl zum Kanzler zu ernennen." Es wird auch nicht differenziert, je nach Situation, zum Beispiel, dass der Bundespräsident verpflichtet ist, den Favoriten oder die Favoritin des Parlaments zum Kanzler zu ernennen, mit Ausnahme der Situation, dass die Koalition platzt, dann kann der Bundespräsident eine Person seiner Wahl für eine Übergangszeit zum Kanzler oder zur Kanzlerin ernennen. Sondern es wird geschludert: der Kanzler wird vom BP ernannt, wer den zu Ernennenden auswählt, wissma net.

Und die Kanzlerernennung ist ein ganz zentraler Teil des politischen Geschehens, und nicht einmal hier ist die Verfassung eindeutig und klar.

Alle diese Doppeldeutigkeiten und Widersprüche der Verfassung sind nun wiederum verfassungwidrig. Denn laut Judikatur des Verfassungsgerichthof ist die Klarheit und Eindeutigkeit ein integraler Bestandteil des Gesetzesbegriffs. Das ist das sogenannte Bestimmtheitsgebot, und wegen Verletzung dieses Bestimmtheitsgebots wurden zahlreiche Gesetze vom VfGH als verfassungswidrig aufgehoben. Alle Verfassungsbestimmungen, die nicht bestimmt und eindeutig und widerspruchsfrei sind, sind daher selbst verfassungswidrig, obwohl Teil der Verfassung. Allerdings gibt es gegen diese Verfassungswidrigkeit großer Teile der Verfassung kein Rechtsmittel, weil der Verfassungsgerichtshof nur einfache Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüfen kann, nicht hingegen Verfassungsbestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot.

Sie meinen, das klingt jetzt alles sehr nach Schildbürgerrepublik ??? Ja, klingt es, und Österreich ist wohl auch bis zu einem gewissen Grad Schildbürgerrepublik.

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